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Textreviſion und Ei
Ven Jonas Fein
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Ein Roman
von
Friedrich Schlegel
— 0 000 m
Jena 2
Bei Eugen Diederichs Ti.
1907
| Einleitung
Ein verfehmtes Buͤchlein tritt hier
nach hundert Jahren neu ans Licht;
trotz ſeinen Gebreſten ein bedeutſames
Denkmal einer großen Zeit und eines
N großen Geiſtes.
Man nehme es nicht als ein
literariſches, vielmehr als ein menſch—
liches Dokument hin. Denn kein
Kunſtwerk iſt die Lueinde, ſondern ein
Bekenntnis. Und der dieſes Bekennt—
nis ablegt, iſt ein Kaͤmpfender wider
ſeine Zeit und deren Vorurteile; wider
eine Zeit, die auch heute noch lange nicht
Vergangenheit heißt, wider Vorurteile,
die auch unſeren Tagen entſprießen.
Es gibt Menſchen, welche mit
Wahrheiten, die durch ſie verkuͤndet
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—
II
werden ſollen, ſchon zur Welt ge⸗
kommen zu ſein ſcheinen. Sie draͤngen
ſich nicht auf: ſtill laſſen ſie den
Samen, der in ſie gelegt worden, auf⸗
gehen und ſehen der Stunde der Reife
entgegen, da ihnen ein Gott den Weg
zu ihren Mitmenſchen weiſen wird.
Zu ihnen gehoͤrt der Verfaſſer der
Lueinde nicht. Sein Bekenntnis iſt
zugleich ein Kriegsruf. Man merkt:
er iſt ausgezogen, um ſich im Kampfe
zu meſſen. Seine Ruͤſtung iſt neu
und blank, und es macht ihm Freude,
fie in allen Strahlen der Paradorie
renommiſtiſch ſchillern und glaͤnzen zu
laſſen. Und in jugendlichem uͤbermut
ſpringt er wohl auch gelegentlich von
ſeinem Roß ab, um vor den verbluͤfften
Augen der Philiſter mit der Goͤttin der
Frechheit ein Menuett zu tanzen.
Frech iſt dies Buͤchlein fuͤrwahr;
III
aber auch fromm. Es lebt und webt
in ihm jene tiefe Weltfroͤmmigkeit,
aus der die Ideen der Romantik ge⸗
boren wurden; jene Froͤmmigkeit, die
den Menſchen durch Liebe erhoͤhen will,
die durch Liebe den Weg zur Erfaſſung
der Welt und ihrer Geheimniſſe findet.
Die Liebe als angewandte Religion:
dies iſt das große Thema der Lueinde.
Durch alle Verſchleierungen einer
ſchwerfaͤlligen Form ſchimmert es
durch und kehrt in allen Variationen
wieder: bald in dionyſiſchem Enthu—
ſiasmus, bald in frivoler Maske, bald
wieder in inbruͤnſtiger Anbetung.
Es war Friedrich Schlegels Traum,
der Prophet einer neuen Religion zu
werden. Unter die Werke, die uns
ſeine geplante Bibel erſetzen muͤſſen,
gehoͤrt auch die Lueinde: der Bekenner
einer neuen Ethik, der Buͤrger einer
place
— —
x
IV
neuen Menſchheit ſpricht auch aus
dieſem verfehmten Buͤchlein.
Und nun moͤge es hinauswandern:
den geiſtig Aufrechten eine Labe, ein
Argernis den Phariſaͤern und Ver⸗
ſchnittenen.
Jonas Fraͤnkel
Prolog.
Mit laͤchelnder Ruͤhrung uͤberſchaut
und eröffnet Petrarca die Samm⸗
lung ſeiner ewigen Romanzen. Hoͤf—
lich und ſchmeichelnd redet der kluge
Boccaz am Eingang und am Schluß
ſeines reichen Buchs zu allen Da—
men. Und felbft der hohe Cervan—
tes, auch als Greis und in der
Agonie noch freundlich und voll
von zartem Witz, bekleidet das bunte
Schauſpiel der lebensvollen Werke
mit dem koſtbaren Teppich einer Vor:
rede, die ſelbſt ſchon ein ſchoͤnes ro—
mantiſches Gemaͤlde iſt.
Hebt eine herrliche Pflanze aus
Lueinde I. A
2
dem fruchtbaren mütterlichen Boden,
und es wird fich manches liebevoll
daran haͤngen, was nur einem Kar⸗
gen uͤberfluͤſſig ſcheinen kann.
Aber was ſoll mein Geiſt ſeinem
Sohne geben, der gleich ihm ſo arm
an Poeſie iſt als reich an Liebe?
Nur ein Wort, ein Bild zum Ab⸗
ſchiede: Nicht der koͤnigliche Adler
allein darf das Gekraͤchz der Raben
verachten; auch der Schwan iſt ſtolz,
und nimmt es nicht wahr. Ihn kuͤm⸗
mert nichts, als daß der Glanz ſei⸗
ner weißen Fittiche rein bleibe. Er
ſinnt nur darauf, ſich an den Schooß
der Leda zu ſchmiegen, ohne ihn zu
verletzen; und alles was ſterblich iſt
an ihm, in Geſaͤnge auszuhauchen.
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eines Ungeſchickten.
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Julius an Lucinde.
— K
Die Menſchen und was ſie wollen
und thun, erſchienen mir, wenn ich
mich daran erinnerte, wie aſchgraue
Figuren ohne Bewegung: aber in
der heiligen Einſamkeit um mich her
war alles Licht und Farbe und ein
friſcher warmer Hauch von Leben
und Liebe wehte mich an und rauſchte
und regte ſich in allen Zweigen des
1 75
uͤppigen Hains. Ich ſchaute und ich
genoß alles zugleich, das kraͤftige
Gruͤn, die weiße Bluͤthe und die
goldne Frucht. Und ſo ſah ich auch
mit dem Auge meines Geiſtes die
Eine ewig und einzig Geliebte in
vielen Geſtalten, bald als kindliches
Maͤdchen, bald als Frau in der vol⸗
len Bluͤthe und Energie der Liebe
und der Weiblichkeit, und dann als
wuͤrdige Mutter mit dem ernſten
Knaben im Arm. Ich athmete Fruͤh⸗
ling, klar ſah ich die ewige Jugend
um mich und laͤchelnd ſagte ich:
Wenn die Welt auch eben nicht die
beſte oder die nuͤtzlichſte ſeyn mag,
ſo weiß ich doch, ſie iſt die ſchoͤnſte.
In dieſem Gefuͤhle oder Gedanken
haͤtte mich auch nichts ſtoͤren koͤnnen,
7
weder allgemeine Zweifel noch eigne
Furcht. Denn ich glaubte einen tie⸗
fen Blick in das Verborgne der Na-
tur zu thun; ich fuͤhlte, daß alles
ewig lebe und daß der Tod auch
freundlich ſey und nur eine Taͤu⸗
ſchung. Doch dachte ich daran ei⸗
gentlich nicht ſehr, wenigſtens zum
Gliedern und Zergliedern der Be—
griffe war ich nicht fonderlich ge—
ſtimmt. Aber gern und tief verlor
ich mich in alle die Vermiſchungen
und Verſchlingungen von Freude und
Schmerz „aus denen die Würze des
Lebens und die Bluͤthe der Empfin⸗
dung hervorgeht, die geiſtige Wolluſt
wie die ſinnliche Seligkeit. Ein fei⸗
nes Feuer ſtroͤmte durch meine Adern;
was ich träumte, war nicht etwa
*
8
bloß ein Kuß, die Umſchließung dei⸗
ner Arme, es war nicht bloß der
Wunſch, den quaͤlenden Stachel der
Sehnſucht zu brechen und die ſuͤße
Gluth in Hingebung zu kuͤhlen; nicht
nach deinen Lippen allein ſehnte ich
mich, oder nach deinen Augen, oder
nach deinem Leibe: ſondern es war
eine romantiſche Verwirrung von als
len dieſen Dingen, ein wunderſames
Gemiſch von den verſchiedenſten Er—
innerungen und Sehnſuchten. Alle
Myſterien des weiblichen und des
maͤnnlichen Muthwillens ſchienen mich
zu umſchweben, als mich Einſamen
ploͤtzlich deine wahre Gegenwart und
der Schimmer der bluͤhenden Freude
auf deinem Geſichte vollends ent⸗
zuͤndete. Witz und Entzuͤcken be—
9
gannen nun ihren Wechſel und was
ren der gemeinſame Puls unſers ver—
einten Lebens; wir umarmten uns
mit eben ſo viel Ausgelaſſenheit als
Religion. Ich bat ſehr, du moͤch⸗
teſt dich doch einmal der Wuth ganz
hingeben, und ich flehte dich an, du
moͤchteſt unerſaͤttlich ſeyn. Dennoch
lauſchte ich mit kuͤhler Beſonnenheit
auf jeden leiſen Zug der Freude, da—
mit mir auch nicht einer entſchluͤpfe
und eine Luͤcke in der Harmonie
bleibe. Ich genoß nicht bloß, ſon-
dern ich fühlte und genoß auch den
Genuß. |
Du biſt fo außerordentlich klug,
liebſte Lueinde, daß du wahrſchein—
lich ſchon laͤngſt auf die Vermuthung
gerathen biſt, dies alles ſey nur ein
10
ſchoͤner Traum. So iſt es leider
auch, und ich wuͤrde untroͤſtlich
daruͤber ſeyn, wenn ich nicht hoffen
duͤrfte, daß wir wenigſtens einen
Theil davon naͤchſtens realiſiren koͤnn⸗
ten. Das Wahre an der Sache iſt,
daß ich vorhin am Fenſter ſtand;
wie lange, das weiß ich nicht recht:
denn mit den andern Regeln der
Vernunft und der Sittlichkeit iſt auch
die Zeitrechnung dabey ganz von
mir vergeſſen worden. Alſo ich ſtand
am Fenſter und ſah ins Freye; der
Morgen verdient allerdings ſchoͤn
genannt zu werden, die Luft iſt ſtill
und warm genug, auch iſt das Gruͤn
hier vor mir ganz friſch, und wie
ſich die weite Ebne bald hebt bald
ſenket, ſo windet ſich der ruhige,
11
breite ſilberhelle Strom in großen
Schwuͤngen und Bogen, bis er und
die Fantaſie des Liebenden, die ſich
gleich dem Schwane auf ihm wiegte,
in die Ferne hinziehen und ſich in
das Unermeßliche langſam verlieren.
Den Hain und ſein ſuͤdliches Colorit
verdankt meine Viſion wahrſcheinlich
dem großen Blumenhaufen hier ne—
ben mir, unter denen ſich eine be—
traͤchtliche Anzahl von Orangen be:
findet. Alles uͤbrige laͤßt ſich leicht
aus der Pſychologie erklären. Es
war Illuſion, liebe Freundin, alles
Illuſion, außer daß ich vorhin am
Fenſter ſtand und nichts that, und
daß ich jetzt hier ſitze und etwas
thue, was auch nur wenig mehr
12
oder wohl gar noch etwas weniger
als nichts thun iſt.
So weit war an dich geſchrie—
ben, was ich mit mir geſprochen
hatte, als mich mitten in meinen
zarten Gedanken und ſinnreichen Ge⸗
fuͤhlen uͤber den eben ſo wunderba⸗
ren als verwickelten dramatiſchen
Zuſammenhang unſrer Umarmungen
ein ungebildeter und ungefaͤlliger
Zufall unterbrach, da ich eben im
Begriff war, die genaue und ge⸗
diegne Hiſtorie unſers Leichtſinns
und meiner Schwerfaͤlligkeit in klaren
und wahren Perioden vor dir auf:
1 zurollen, die von Stufe zu Stufe
| allmaͤhlig nach natürlichen Geſetzen
13
fortſchreitende Aufklärung unfrer den
verborgenen Mittelpunkt des feinften
Daſeyns angreifenden Mißverſtaͤnd—
niſſe zu entwickeln und die mannich—
fachen Produkte meiner Ungeſchicklich—
keit darzuſtellen, nebſt den Lehrjah⸗
ren meiner Maͤnnlichkeit; welche ich
im Ganzen und in ihren Theilen
nie uͤberſchauen kann, ohne vieles
Laͤcheln, einige Wehmuth und hin—
laͤngliche Selbſtzufriedenheit. Doch
will ich als ein gebildeter Liebhaber
und Schriftſteller verſuchen, den ro—
hen Zufall zu bilden und ihn zum
Zwecke zu geſtalten. Fuͤr mich und fuͤr
dieſe Schrift, fuͤr meine Liebe zu ihr
und fuͤr ihre Bildung in ſich, iſt
aber kein Zweck zweckmaͤßiger, als
der, daß ich gleich Anfangs das
—— ne nme
14
was wir Ordnung nennen vernichte,
weit von ihr entferne und mir das
Recht einer reizenden Verwirrung
deutlich zueigne und durch die That
behaupte. Dies iſt um ſo noͤthiger,
da der Stoff, den unſer Leben und
Lieben meinem Geiſte und meiner
Feder giebt, ſo unaufhaltſam pro⸗
greſſiv und ſo unbiegſam ſyſtematiſch
iſt. Waͤre es nun auch die Form,
ſo wuͤrde dieſer in ſeiner Art einzige
Brief dadurch eine unertraͤgliche Ein⸗
heit und Einerleyheit erhalten und
nicht mehr koͤnnen, was er doch
will und ſoll: das ſchoͤnſte Chaos
von erhabnen Harmonien und in⸗
tereſſanten Genuͤſſen nachbilden und
ergaͤnzen. Ich gebrauche alſo mein
unbezweifeltes Verwirrungsrecht und
15
ſetze oder ftelle hier ganz an die un—
rechte Stelle eines von den vielen
zerſtreuten Blaͤttern, die ich aus Sehn⸗
ſucht und Ungeduld, wenn ich dich
nicht fand wo ich dich am gewiſſe—
ften zu finden hoffte, in deinem Zim⸗
mer, auf unſerm Sopha, mit der
zuletzt von dir gebrauchten Feder,
mit den erſten den beſten Worten,
ſo jene mir eingegeben, anfuͤllte oder
verdarb, und die du Gute, ohne daß
ich es wußte, ſorgſam bewahrteſt.
Die Auswahl wird mir nicht
ſchwer. Denn da unter den Traͤu⸗
mereyen, die hier ſchon den
ewigen Lettern und dir anvertrauet
ſind, die Erinnerung an die ſchoͤnſte
Welt noch das gehaltvollſte iſt, und
noch am erſten eine gewiſſe Art von
16
Ahnlichkeit mit den ſogenannten Ge⸗
danken hat: ſo nehme ich vor allen
andern die dithyrambiſche Fantaſie
uͤber die ſchoͤnſte Situazion. Denn
wiſſen wir erſt ſicher, daß wir in
der ſchoͤnſten Welt leben: ſo iſt es
unſtreitig das naͤchſte Beduͤrfniß uns
uͤber die ſchoͤnſte Situazion in dieſer
ſchoͤnſten Welt durch andre oder
durch uns ſelbſt gruͤndlich zu be⸗
lehren.
Dithyrambiſche Fantaſie uͤber
die ſchoͤnſte Situazion.
Eine große Thraͤne faͤllt auf das
heilige Blatt, welches ich hier ſtatt
deiner fand. Wie treu und wie ein⸗
fach haſt du ihn aufgezeichnet, den
kuͤhnen alten Gedanken zu meinem
lieb⸗
17
fiebften und geheimſten Vorhaben.
In dir iſt er groß geworden und
in dieſem Spiegel ſcheue ich mich
nicht, mich ſelbſt zu bewundern und
zu lieben. Nur hier ſehe ich mich
ganz und harmoniſch, oder vielmehr
die volle ganze Menſchheit in mir
und in dir, Denn auch dein Geiſt
ſteht beſtimmt und vollendet vor mir;
es find nicht mehr Züge, die erſchei—
nen und zerfließen: ſondern wie eine
von den Geſtalten, die ewig dauern,
blickt er mich aus hohen Augen freu:
dig an und oͤffnet die Arme, den
meinigen zu umſchließen. Die flüch-
tigften und heiligſten von jenen zar⸗
ten Zuͤgen und Außerungen der
Seele, die dem, welcher das hoͤchſte
nicht kennt, allein ſchon Seligkeit
Lucinde I. B
18
ſcheinen, find nur die gemeinſchaft⸗
liche Atmoſphaͤre unſers geiſtigen
Athmens und Lebens.
Die Worte ſind matt und truͤbe;
auch wuͤrde ich in dieſem Gedraͤnge
von Erſcheinungen nur immer das
eine unerſchoͤpfliche Gefuͤhl unſrer
urſpruͤnglichen Harmonie von neuem
wiederholen muͤſſen. Eine große Zu⸗
kunft winkt mich eilends weiter ins
unermeßliche hinaus, jede Idee oͤff⸗
net ihren Schooß und entfaltet ſich
in unzaͤhlige neue Geburten. Die
aͤußerſten Enden der zuͤgelloſen Luſt
und der ſtillen Ahndung leben zu⸗
gleich in mir. Ich erinnere mich an
alles, auch an die Schmerzen, und
alle meine ehemaligen und kuͤnftigen
Gedanken regen ſich und ſtehen
19
wider mich auf. In den geſchwollnen
Adern tobt das wilde Blut, der
Mund durſtet nach Vereinigung, und
unter den vielen Geſtalten der Freude
waͤhlt und wechſelt die Fantaſie und
findet keine, in der die Begierde ſich
endlich erfuͤllen und endlich Ruhe
finden koͤnnte. Und dann gedenke
ich wieder ploͤtzlich und ruͤhrend der
dunkeln Zeit, da ich immer wartete,
ohne zu hoffen, und heftig liebte,
ohne daß ich es wußte; da mein
innerſtes Weſen ſich ganz in unbe:
ſtimmte Sehnſucht ergoß und ſie
nur ſelten in halb unterdruͤckten Seuf⸗
zern aushauchte.
Ja! ich wuͤrde es fuͤr ein Maͤhr⸗
chen gehalten haben, daß es ſolche
Freude gebe und ſolche Liebe, wie
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1
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+
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ich nun fühle, und eine ſolche Frau,
die mir zugleich die zaͤrtlichſte Ge⸗
liebte und die beſte Geſellſchaft waͤre
und auch eine vollkommene Freun⸗
din. Denn in der Freundſchaft be⸗
ſonders ſuchte ich alles, was ich ent⸗
behrte und was ich in keinem weib⸗
lichen Weſen zu finden hoffte. In
dir habe ich es alles gefunden und
mehr als ich zu wuͤnſchen vermochte:
aber du biſt auch nicht wie die an⸗
dern. Was Gewohnheit oder Ei⸗
genſinn weiblich nennen, davon
weißt du nichts. Außer den kleinen
Eigenheiten beſteht die Weiblichkeit
deiner Seele bloß darin, daß Leben
und Lieben fuͤr ſie gleich viel bedeu⸗
tet; du fuͤhlſt alles ganz und un⸗
endlich, du weißt von keinen Ab⸗
21
ſonderungen, dein Weſen iſt Eins
und untheilbar. Darum biſt du ſo
ernſt und ſo freudig; darum nimmſt
du alles ſo groß und ſo nachlaͤſſig,
und darum liebſt du mich auch ganz
und uͤberlaͤßt keinen Theil von mir
etwa dem Staate, der Nachwelt
oder den maͤnnlichen Freunden. Es
gehoͤrt dir alles und wir ſind uns
uͤberall die naͤchſten und verſtehn uns
am beſten. Durch alle Stufen der
Menſchheit gehſt du mit mir von
der ausgelaſſenſten Sinnlichkeit bis
zur geiſtigſten Geiſtigkeit und nur in
dir ſah ich wahren Stolz und wahre
weibliche Demuth.
Das aͤußerſte Leiden, wenn es
uns nur umgaͤbe, ohne uns zu tren⸗
nen, wuͤrde mir nichts ſcheinen als
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1
1
4
22
ein reizender Gegenſatz fuͤr den hohen
Leichtſinn unſrer Ehe. Warum ſoll⸗
ten wir nicht die herbeſte Laune des
Zufalls fuͤr ſchoͤnen Witz und aus⸗
gelaſſene Willkuͤhr nehmen, da wir
unſterblich ſind wie die Liebe? Ich
kann nicht mehr ſagen, meine Liebe
oder deine Liebe; beyde ſind ſich
gleich und vollkommen Eins, ſo viel
Liebe als Gegenliebe. Es iſt Ehe,
ewige Einheit und Verbindung un⸗
frer Geiſter, nicht bloß für das was
wir dieſe oder jene Welt nennen,
ſondern fuͤr die eine wahre, untheil⸗
bare, namenloſe, unendliche Welt,
fuͤr unſer ganzes ewiges Seyn und
Leben. Darum wuͤrde ich auch,
wenn es mir Zeit ſchiene, eben ſo
froh und eben ſo leicht eine Taſſe
23
Kirſchlorberwaſſer mit dir ausleeren,
wie das letzte Glas Champagner,
was wir zuſammen tranken, mit den
Worten von mir: »So laß uns den
»Reſt unſers Lebens austrinken.« —
So ſprach und trank ich eilig, ehe
der edelſte Geiſt des Weins ver—
ſchaͤumte; und ſo, das ſage ich noch
einmal, ſo laß uns leben und lie—
ben. Ich weiß, auch du wuͤrdeſt
mich nicht uͤberleben wollen, du wuͤr—
deſt dem voreiligen Gemahle auch
im Sarge folgen, und aus Luſt und
Liebe in den flammenden Abgrund
ſteigen, in den ein raſendes Geſetz
die Indiſchen Frauen zwingt und
die zarteſten Heiligthuͤmer der Will—
klluͤhr durch grobe Abſicht und Befehl
| entweiht und zerſtoͤrt.
—
x 9
1
*
**
15
Dort wird dann vielleicht die
Sehnſucht voller befriedigt. Ich bin
oft daruͤber erſtaunt: jeder Gedan⸗
ke und was ſonſt gebildet in uns
iſt, ſcheint in ſich ſelbſt vollendet,
einzeln und untheilbar wie eine Per⸗
ſon; eines verdraͤngt das andre, und
was eben ganz nah und gegenwaͤr—
tig war, ſinkt bald in Dunkel zu⸗
ruͤck. Und dann giebt es doch wies
der Augenblicke ploͤtzlicher, allgemei⸗
ner Klarheit, wo mehrere ſolche Gei—
ſter der innern Welt durch wunder⸗
bare Vermaͤhlung voͤllig in Eins
verſchmelzen, und manches ſchon ver—
geſſene Stuͤck unſers Ich in neuem
Lichte ſtrahlt und auch die Nacht
der Zukunft mit ſeinem hellen Scheine
oͤffnet. Wie im Kleinen ſo, glaube
25
ich, iſt es auch im Großen. Was
wir ein Leben nennen, iſt fuͤr den
ganzen ewigen innern Menſchen
nur ein einziger Gedanke, ein un⸗
theilbares Gefuͤhl. Auch fuͤr ihn
giebts ſolche Augenblicke des tiefſten
und vollſten Bewußtſeyns, wo ihm
alle die Leben einfallen, ſich anders
miſchen und trennen. Wir beide
werden noch einſt in Einem Geiſte
anſchauen, daß wir Bluͤthen Einer
Pflanze oder Blaͤtter Einer Blume
ſind, und mit Laͤcheln werden wir
dann wiſſen, daß was wir jetzt nur
Hoffnung nennen, eigentlich Erin:
nerung war.
Weißt du noch, wie der erſte
Keim dieſes Gedankens vor dir in
meiner Seele aufſproßte und auch
26
gleich in der deinigen Wurzel faßte?
— So ſchlingt die Religion der
Liebe unſre Liebe immer inniger und
ſtaͤrker zuſammen, wie das Kind die
Luſt der zaͤrtlichen Eltern dem Echo
gleich verdoppelt.
Nichts kann uns trennen und
gewiß wuͤrde jede Entfernung mich
nur gewaltſamer an dich reißen. Ich
denke mir, wie ich bey der letzten
Umarmung im Gedraͤnge der hef—
tigen Widerſpruͤche zugleich in Thraͤ⸗
nen und in Lachen ausbreche. Dann
wuͤrde ich ſtill werden und in einer
Art von Betaͤubung durchaus nicht
glauben, daß ich von dir entfernt
ſey, bis die neuen Gegenſtaͤnde um
mich her mich wider Willen über:
zeugten. Aber dann wuͤrde auch
27
meine Sehnſucht unaufhaltſam wach:
ſen, bis ich auf ihren Fluͤgeln in
deine Arme ſaͤnke. Laß auch die
Worte oder die Menfchen ein Mis⸗
verſtaͤndniß zwiſchen uns erregen!
Der tiefe Schmerz wuͤrde fluͤchtig
ſeyn und ſich bald in vollkommenere
Harmonie aufloͤſen. Ich wuͤrde ihn
ſo wenig achten, wie die liebende
Geliebte im Enthuſiasmus der Wol—
luſt die kleine Verletzung achtet.
Wie koͤnnte uns die Entfernung
entfernen, da uns die Gegenwart
ſelbſt gleichſam zu gegenwaͤrtig iſt.
Wir muͤſſen ihre verzehrende Gluth
in Scherzen lindern und kuͤhlen und
ſo iſt uns die witzigſte unter den
Geſtalten und Situazionen der Freude
auch die ſchoͤnſte. Eine unter allen
28
ift die witzigſte und die ſchoͤnſte:
wenn wir die Rollen vertauſchen
und mit kindiſcher Luſt wetteifern,
wer den andern taͤuſchender nach⸗
aͤffen kann, ob dir die ſchonende Hef⸗
tigkeit des Mannes beſſer gelingt,
oder mir die anziehende Hingebung
des Weibes. Aber weißt du wohl,
daß dieſes ſuͤße Spiel fuͤr mich noch
ganz andre Reize hat als ſeine eig⸗
nen? Es iſt auch nicht bloß die Wol⸗
luſt der Ermattung oder das Vor⸗
gefuͤhl der Rache. Ich ſehe hier
eine wunderbare ſinnreich bedeu⸗
tende Allegorie auf die Vollendung
des Maͤnnlichen und Weiblichen zur
vollen ganzen Menſchheit. Es liegt
viel darin, und was darin liegt,
29
ſteht gewiß nicht fo ſchnell auf wie
ich, wenn ich dir unterliege.
Das war die dithyrambiſche
Fantaſie uͤber die ſchoͤnſte Situazion
in der ſchoͤnſten Welt! Ich weiß noch
recht gut, wie du ſie damals gefun⸗
den und genommen haſt. Aber ich
glaube auch eben ſo gut zu wiſſen,
wie du ſie hier finden und nehmen
wirſt; hier in dieſem Buͤchelchen, von
dem du mehr treue Geſchichte, ſchlichte
Wahrheit und ruhigen Verſtand, ja
ſogar Moral, die liebenswuͤrdige
Moral der Liebe erwarteſt. »Wie
»kann man ſchreiben wollen, was
»kaum zu ſagen erlaubt iſt, was
»man nur fühlen follte?e — Ich
|
}
30
antworte: Fuͤhlt man es, fo muß
man es ſagen wollen, und was man
ſagen will, darf man auch ſchreiben
koͤnnen.
Ich wollte dir erſt beweiſen und
begruͤnden, es liege urſpruͤnglich und
weſentlich in der Natur des Man⸗
nes ein gewiſſer toͤlpelhafter Enthu⸗
ſiasmus, der gern mit allem Zarten
und Heiligen herausplatzt, nicht ſel⸗
ten uͤber ſeinen eignen treuherzigen
Eifer ungeſchickterweiſe hinſtuͤrzt und
mit einem Worte leicht bis zur Grob⸗
heit goͤttlich iſt.
Durch dieſe Apologie waͤre ich
zwar gerettet, aber vielleicht nur
auf Unkoſten der Maͤnnlichkeit ſelbſt:
denn ſo viel ihr auch im einzelnen
von dieſer haltet, ſo habt ihr doch
31
immer viel und vieles wider das
Ganze der Gattung. Ich will in—
deſſen auf keinen Fall gemeine Sache
mit einer ſolchen Race haben und
vertheidige oder entſchuldige daher
meine Freyheit und Frechheit lieber
bloß mit dem Beyſpiele der unſchul⸗
digen kleinen Wilhelmine, da ſie doch
auch eine Dame iſt, die ich uͤberdem
auf das zaͤrtlichſte liebe. Darum
will ich ſie auch gleich ein wenig
charakteriſiren.
Charakteriſtik der kleinen Wil-
helmine.
Betrachtet man das ſonderbare
Kind nicht mit Ruͤckſicht auf eine
einfeitige Theorie, ſondern wie es
ſich ziemt, im Großen und Ganzen:
32
jo darf man kuͤhnlich von ihr fagen,
und es iſt vielleicht das beſte was
man uͤberhaupt von ihr ſagen kann:
Sie iſt die geiſtreichſte Perſon ihrer
Zeit oder ihres Alters. Und das iſt
nicht wenig geſagt: denn wie ſelten
iſt harmoniſche Ausbildung unter
zweyjaͤhrigen Menſchen? Der ſtaͤrkſte
unter vielen ſtarken Beweiſen fuͤr
ihre innere Vollendung iſt ihre hei⸗
tere Selbſtzufriedenheit. Wenn ſie
gegeſſen hat, pflegt ſie beide Arm⸗
chen auf den Tiſch ausgebreitet ih⸗
ren kleinen Kopf mit naͤrriſchem Ernſt
darauf zu ſtuͤtzen, macht die Augen
groß und wirft ſchlaue Blicke im
Kreiſe der ganzen Familie umher.
Dann richtet ſie ſich auf mit dem
lebhafteſten Ausdrucke von Ironie
und
* 2
33
und lächelt über ihre eigne Schlau:
heit und unſre Inferioritaͤt. Über:
haupt hat ſie viel Bouffonerie und
viel Sinn fuͤr Bouffonerie. Mache
ich ihre Gebehrden nach, ſo macht
fie mir gleich wieder mein Nachma⸗
chen nach; und ſo haben wir uns
eine mimiſche Sprache gebildet und
verſtaͤndigen uns in den Hierogly⸗
phen der We meh Kunft. Zur
Poeſie glaube ich hat fie weit mehr
Neigung als zur Philoſophie; ſo
laͤßt ſie ſich auch lieber fahren und
reiſet nur im Nothfall zu Fuß. Die
harten uͤbelklaͤnge unſrer nordiſchen
Mutterſprache verſchmelzen auf ihrer
Zunge in den weichen und ſuͤßen
Wohllaut der Italiaͤniſchen und In⸗
diſchen Mundart. Reime liebt ſie
Lucinde I C
34
befonders, wie alles Schöne; fie
fann oft gar nicht müde werden,
alle ihre Lieblingsbilder, gleichſam
eine klaſſiſche Auswahl ihrer kleinen
Genuͤſſe, ſich ſelbſt unaufhoͤrlich nach
einander zu ſagen und zu ſingen.
Die Bluͤthen aller Dinge jeglicher
Art flicht Poeſie in einen leichten
Kranz und ſo nennt und reimt auch
Wilhelmine Gegenden, Zeiten, Be⸗
gebenheiten, Perſonen, Spielwerke
und Speiſen, alles durch einander
in romantiſcher Verwirrung, ſo viel
Vorte ſo viel Bilder; und das ohne
alle Nebenbeſtimmungen und kuͤnſt⸗
lichen Übergänge, die am Ende doch
nur dem Verſtande frommen und
jeden kuͤhneren Schwung der Fan⸗
taſie hemmen. Fuͤr die ihrige iſt alles
35
in der Natur belebt und beſeelt; und
ich erinnere mich noch oft mit Ver⸗
gnuͤgen daran, wie ſie in einem Al⸗
ter von nicht viel mehr als einem
Jahre zum erſtenmal eine Puppe ſah
und fuͤhlte. Ein himmliſches Laͤcheln
bluͤhte auf ihrem kleinen Geſichte und
fie drückte gleich einen herzlichen Kuß
auf die gefaͤrbten Lippen von Holz.
Gewiß! es liegt tief in der Natur
des Menſchen, daß er alles eſſen
will, was er liebt, und jede neue
Erſcheinung unmittelbar zum Munde
fuͤhrt, um ſie da wo moͤglich in ihre
erſten Beſtandtheile zu zergliedern.
Die geſunde Wißbegierde wuͤnſcht
ihren Gegenſtand ganz zu faſſen, bis
in ſein Innerſtes zu durchdringen
und zu zerbeißen. Das Betaſten
C2
36
dagegen bleibt bey der aͤußerlichen
Oberflaͤche allein ſtehn, und alles
Begreifen gewaͤhrt eine unvollkom⸗
mene nur mittelbare Erkenntniß.
Indeſſen iſt es doch ſchon ein in⸗
tereſſantes Schauſpiel, wenn ein geiſt⸗
reiches Kind ein Ebenbild von ſich
erblickt, es mit den Haͤnden zu be⸗
greifen und ſich durch dieſe erſten
und letzten Fuͤhlhoͤrner der Vernunft
zu orientiren ſtrebt; ſchuͤchtern ver⸗
kriecht und verſteckt ſich der Fremd⸗
ling und aͤmſig iſt die kleine Philo⸗
ſophin hinterdrein, den Gegenſtand
ihrer angefangenen Unterſuchung zu
verfolgen. —
Aber freylich iſt Geiſt, Witz und
Originalitaͤt bey Kindern gerade ſo
ſelten wie bey Erwachſenen. Doch
37
alles dies und fo vieles andre ge:
hört nicht hieher und wuͤrde mich
uͤber die Graͤnzen meines Zweckes
fuͤhren! Denn dieſe Charakteriſtik
ſoll ja nichts darſtellen als ein Ideal,
welches ich mir ſtets vor Augen hal⸗
ten will, um in dieſem kleinen Kunſt⸗
werke ſchoͤner und zierlicher Lebens⸗
weisheit nie von der zarten Linie
des Schicklichen zu verirren, und
dir, damit du alle die Freyheiten
und Frechheiten, die ich mir noch zu
nehmen denke, im voraus verzeihſt,
oder doch von einem hoͤhern Stand⸗
punkte beurtheilen und wuͤrdigen
kannſt.
Habe ich etwa Unrecht, wenn
ich die Sittlichkeit bey Kindern, Zart⸗
heit und Zierlichkeit in Gedanken
38
und Worten vornehmlich beym weib⸗
lichen Geſchlecht ſuche? —
Und nun ſieh! dieſe liebenswuͤr⸗
dige Wilhelmine findet nicht ſelten
ein unausſprechliches Vergnuͤgen da⸗
rin, auf dem Ruͤcken liegend mit
den Beinchen in die Höhe zu geſti⸗
culiren, unbekuͤmmert um ihren Rock
und um das Urtheil der Welt.
Wenn das Wilhelmine thut, was
darf ich nicht thun, da ich doch bey
Gott! ein Mann bin, und nicht zar⸗
ter zu ſeyn brauche wie das zarteſte
| weibliche Weſen?
O beneidenswuͤrdige Freyheit von
Vorurtheilen! Wirf auch du ſie von
dir, liebe Freundin, alle die Reſte
von falſcher Schaam, wie ich oft
die fatalen Kleider von dir riß und
39
in fchöner Anarchie umherſtreute.
Und ſollte dir ja dieſer kleine Roman
meines Lebens zu wild ſcheinen: ſo
denke dir, daß er ein Kind ſey und
ertrage ſeinen unſchuldigen Muth:
willen mit muͤtterlicher Langmuth
und laß dich von ihm liebkoſen.
Wenn du es mit der Wahrſchein—
lichkeit und durchgaͤngigen Bedeut—
ſamkeit einer Allegorie nicht ſo gar
ſtrenge nehmen und dabey ſo viel
Ungeſchicklichkeit im Erzaͤhlen erwar⸗
ten wollteſt, als man von den Be⸗
kenntniſſen eines Ungeſchickten fodern
muß, wenn das Coſtum nicht ver⸗
letzt werden ſoll: ſo moͤchte ich dir
hier einen der letzten meiner wa—
chenden Traͤume erzaͤhlen, da er
ein aͤhnliches Reſultat giebt wie die
40
Charakteriſtik der kleinen Wilhel⸗
mine.
Rr
NA
Allegorie von der Frechheit.
Sorglos ſtand ich in einem kunſt⸗
reichen Garten an einem runden Beet,
welches mit einem Chaos der herr⸗
lichſten Blumen, auslaͤndiſchen und
einlaͤndiſchen, prangte. Ich ſog den
wuͤrzigen Duft ein und ergoͤtzte mich
an den bunten Farben: aber ploͤtz⸗
lich ſprang ein haͤßliches Unthier
mitten aus den Blumen hervor. Es
ſchien geſchwollen von Gift, die durch⸗
ſichtige Haut ſpielte in alle Farben
und man ſah die Eingeweide ſich
winden wie Gewuͤrme. Es war
groß genug, um Furcht einzufloͤßen;
dabey oͤffnete es Krebsſcheeren nach
41
allen Seiten rund um den ganzen
Leib; bald huͤpfte es wie ein Froſch,
dann kroch es wieder mit ekelhafter
Beweglichkeit auf einer unzaͤhligen
Menge kleiner Fuͤße. Mit Entſetzen
wandte ich mich weg: da es mich
aber verfolgen wollte, faßte ich
Muth, warf es mit einem kraͤftigen
Stoß auf den Ruͤcken, und ſogleich
ſchien es mir nichts als ein gemei⸗
ner Froſch. Ich erſtaunte nicht we⸗
nig, und noch mehr, da plotzlich
Jemand ganz dicht hinter mir ſagte:
»Das iſt die oͤffentliche Meinung,
und ich bin der Witz; deine fal⸗
»ſchen Freunde, jene Blumen find
»ſchon alle welk.“ — Ich ſah mich
um und erblickte eine maͤnnliche Ge⸗
ſtalt mittlerer Groͤße; die großen
42
Formen des edlen Gefichts waren jo
ausgearbeitet und uͤbertrieben, wie
wir ſie oft an roͤmiſchen Bruſtbil⸗
dern ſehn. Ein freundliches Feuer
ſtrahlte aus den offnen lichten Au⸗
gen, und zwey große Locken warfen
und draͤngten ſich ſonderbar auf der
kuͤhnen Stirn. »Ich werde ein al⸗
„tes Schauſpiel vor dir erneuern,
»fprach er: einige Juͤnglinge am
„Scheidewege. Ich ſelbſt habe es
»der Muͤhe werth gehalten, ſie in
»müffigen Stunden mit der goͤttli⸗
schen Fantaſie zu erzeugen. Es find
»die Achten Romane, vier an der
„Zahl und unſterblich wie wir.« —
Ich ſchaute wohin er winkte, und
ein ſchoͤner Juͤngling flog kaum be⸗
kleidet über die grüne ebne. Schon
43
war er fern und ich ſah nur noch
eben, daß er ſich auf ein Roß
ſchwang und davon eilte, als wollte
er den lauen Abendwind uͤberfluͤgeln
und ſeiner Langſamkeit ſpotten. Auf
dem Huͤgel zeigte ſich ein Ritter in
voller Ruͤſtung, groß und hehr von
Geſtalt, beynah ein Rieſe: aber die
genaue Richtigkeit ſeines Wuchſes
und feiner Bildung nebſt der treu:
herzigen Freundlichkeit in feinen be⸗
deutenden Blicken und umſtaͤndlichen
Gebehrden gab ihm dennoch eine
gewiſſe altvaͤteriſche Zierlichkeit. Er
neigte ſich gegen die untergehende
Sonne, ließ ſich langſam auf ein
Knie nieder und ſchien mit großer
Inbrunſt zu beten, die rechte Hand
aufs Herz, die linke an der Stirn.
44
Der Juͤngling, der zuvor fo ſchnell
war, lag nun ganz ruhig am Ab⸗
hange und ſonnte ſich in den letzten
Strahlen; dann ſprang er auf, ent⸗
kleidete ſich, ſtuͤrzte in den Strom
und ſpielte mit den Wellen, tauchte
unter, kam wieder hervor und warf
ſich von neuem in die Fluth. Fern⸗
ab im Dunkel des Hains ſchwebte
etwas in Griechiſchem Gewande wie
eine Geſtalt: aber wenn es eine iſt,
dachte ich, ſo kann ſie kaum der
Erde angehoͤren; ſo matt waren die
Farben, ſo eingehuͤllt das Ganze in
heiligen Nebel. Da ich laͤnger und
genauer hinſah, zeigte ſich's, daß
es auch ein Juͤngling ſey, aber von
ganz entgegengeſetzter Art. Haupt
und Arme lehnte die hohe Geſtalt
45
an eine Urne; feine ernften Blicke
ſchienen bald ein verlohrnes Gut
auf dem Boden zu ſuchen, bald die
blaſſen Sterne, die ſchon zu ſchim⸗
mern begannen, etwas zu fragen;
ein Seufzer oͤffnete die Lippen, um
die ein ſanftes Laͤcheln ſchwebte. —
Jener erſte ſinnliche Juͤngling
war unterdeſſen der einſamen Leibes⸗
uͤbungen uͤberdruͤſſig geworden und
eilte mit leichten Schritten gerade auf
uns zu. Er war nun ganz bekleidet,
faſt wie ein Schaͤfer, aber ſehr bunt
und ſonderbar. Er haͤtte ſo auf
einer Maskerade erſcheinen koͤnnen,
auch ſpielten die Finger feiner Kin:
ken mit den Faͤden, an denen eine
Maske hing. Man haͤtte den fan⸗
taſtiſchen Knaben eben fo gut für
\
\
46 |
ein muthwilliges Mädchen halten
ı mögen, das ſich aus Laune verklei⸗
det. Bisher ging er in gerader
Richtung, aber ploͤtzlich wurde er
unſicher; er ging erſt auf die eine
Seite, dann eilte er zuruͤck nach der
andern und lachte dabey uͤber ſich
ſelbſt. »Der junge Menſch weiß
» nicht, ob er ſich zur Frechheit oder
»zur Delikateſſe halten ſoll,« ſagte
mein Begleiter. Ich ſah zur Linken
eine Geſellſchaft ſchoͤner Frauen und
Maͤdchen; zur Rechten ſtand eine
große allein, und da ich hinſehen
wollte nach der gewaltigen Form,
begegnete ihr Blick dem meinen ſo
ſcharf und kuͤhn, daß ich die Augen
niederſchlug. Mitten unter den Da⸗
men war ein junger Mann, den ich
47
fogleich für einen Bruder der an⸗
dern Romane erkannte. Einer von
denen wie man ſie gegenwaͤrtig ſieht,
aber viel gebildeter; ſeine Geſtalt
und ſein Geſicht war nicht ſchoͤn,
aber fein, ſehr verſtaͤndig und aͤuſ—
ſerſt anziehend. Man haͤtte ihn eben
ſo gut für einen Franzosen wie für
einen Deutſchen halten koͤnnen; ſeine
Kleidung und ſeine ganze Art war
einfach, aber ſorgfaͤltig und völlig
modern. Er unterhielt die Geſell⸗
ſchaft und ſchien ſich fuͤr alle lebhaft
zu intereſſiren. Die Maͤdchen waren
ſehr beweglich um die vornehmſte
Dame und ſchwatzten viel unter
einander. »Ich habe doch noch mehr
»Gemuͤth wie du, liebe Sittlichkeit!
»ſagte die eine; aber ich heiße auch
48
„Seele und zwar die ſchoͤne.« Die
Sittlichkeit wurde etwas blaß und
die Thraͤnen ſchienen ihr nahe zu
ſeyn. »Ich war doch geſtern jo tu⸗
»gendhaft, ſagte fie, und mache im:
»mer größere Fortſchritte in der An⸗
»ſtrengung. Ich habe genug an
meinen eignen Vorwürfen, warum
muß ich noch welche von dir hoͤ⸗
sren?« — Eine andre, die Beſchei⸗
denheit, war neidiſch auf die, welche
ſich die ſchoͤne Seele nannte und
ſprach: »Ich bin boͤſe mit dir, du
»willft mich nur als Mittel brau⸗
schen.e — Die Decenz, da fie die
arme öffentliche Meinung fo huͤlf⸗
los auf dem Ruͤcken liegen ſah, ver⸗
goß drittehalb Thraͤnen und gebehr⸗
dete ſich dann auf eine intereſſante
Weiſe,
49
Weiſe, das Auge zu trocknen, wel:
ches aber gar nicht mehr naß war. —
»Wundre dich nicht uͤber dieſe Of—
»fenheit, ſagte der Witz; fie iſt we⸗
»der gewöhnlich noch willkuͤhrlich.
„Die allmaͤchtige Fantaſie hat dieſe
»weſenloſen Schatten mit ihrem Zau—
»berftabe berührt, damit fie ihr Sn:
»neres offenbaren. Du wirft gleich
noch mehr hören. Aber die Frech—
»heit redet von freyen Stuͤcken fo.«
»Der junge Schwaͤrmer da, ſagte
»die Delikateſſe, ſoll mich recht amuͤ⸗
»firen; der wird immer ſchoͤne Verſe
„auf mich machen. Ich werde ihn
»in der Ferne halten wie den Ritter.
»Der Ritter iſt freylich ſchoͤn, wenn
ver nur nicht jo ernſthaft und feyer⸗
lich ausſaͤhe. Der kluͤgſte von
Lucinde J. D
50
allen ift wohl der Elegant, der jetzt
-mit der Beſcheidenheit ſpricht; ich
glaube, er perſifflirt fie. Wenig⸗
»ſtens hat er über die Sittlichkeit
»und ihr fades Geſicht viel huͤbſches
»gefagt. Er hat doch mit mir am
»meiften geſprochen, und koͤnnte mich
„wohl einmal verführen, wenn ich
mich nicht anders beſinne, oder
„wenn keiner erſcheint, der noch mehr
nach der Mode iſt.“ — Der Ritter
hatte ſich der Geſellſchaft nun auch
genaͤhert; die linke Hand ſtuͤtzte ſich
auf den Griff des großen Schwerdtes,
und mit der rechten bot er den An⸗
weſenden hoͤflichen Gruß. — »Ihr
»ſeyd doch alle gewöhnlich und ich
»habe Langeweile, ſagte der mo⸗
derne Mann, gaͤhnte und ging fort.
51
Ich ſah nunmehr, daß die Frauen,
die ich beym erſten Blick fuͤr ſchoͤn
gehalten hatte, eigentlich nur bluͤ⸗
hend und artig, uͤbrigens aber un⸗
bedeutend waren. Sah man genau
zu, ſo fanden ſich ſogar gemeine
Zuͤge und Spuren von Verderbt⸗
heit. Die Frechheit ſchien mir nun
weniger hart, ich konnte ſie dreiſt
anſehen und mußte es mir mit Ver⸗
wunderung geſtehn, daß ihre Bil
dung groß und edel ſey. Sie ging
haſtig auf die ſchoͤne Seele zu und
griff ihr gerade ins Geſicht. Das
»iſt nur eine Maske, ſagte ſie;
»du biſt nicht die ſchoͤne Seele, ſon⸗
»dern hoͤchſtens die Zierlichkeit,
>oft auch die Coquetterie.- — Dann
wandte ſie ſich zum Witz mit den
D 2
52
Worten: »Wenn du die gemacht
» haſt, die man jetzt Romane nennt,
»ſo haͤtteſt du deine Zeit auch beſſer
»anwenden koͤnnen. Kaum hie und
»da finde ich in den beſten etwas
von der leichten Poeſie des fluͤchti⸗
»gen Lebens: aber wohin iſt fie ent⸗
„flohen, die kuͤhne Muſik des liebe⸗
srafenden Herzens, fie die alles mit
»fich fortreißt, fo daß der Wildeſte
»zärtliche Thraͤnen vergießt und die
„ewigen Felſen ſelber tanzen? Kei⸗
ner iſt ſo albern und keiner ſo nuͤch⸗
stern, der nicht von Liebe ſchwatzt:
»aber wer fie noch kennt, hat kein
„Herz und keinen Glauben, fie aus⸗
»zufprechen.«e Der Witz lachte, der
himmliſche Juͤngling winkte Beyfall
aus der Ferne, und ſie fuhr fort:
3 ee
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53
»Wenn die, welche unvermögend am
»Geiſt find, Kinder mit ihm zeugen
»wollen; wenn die, welche es gar
nicht verſtehn, zu leben wagen: das
sift hoͤchſt unanſtaͤndig, denn es iſt
»hoͤchſt unnatuͤrlich und hoͤchſt un⸗
»ſchicklich. Aber daß der Wein
» ſchaͤumt und der Blitz zuͤndet, iſt
»ganz richtig und ganz ſchicklich.« —
Der leichtfertige Roman hatte nun
gewaͤhlt; er war bey dieſen Worten
ſchon um die Frechheit und ſchien
ihr ganz ergeben. Sie eilte Arm
in Arm mit ihm davon und ſagte
nur im Vorbeygehn zu dem Ritter:
»Wir ſehn uns wieder.“ — „Das
„waren nur aͤußerliche Erſcheinungen,
»ſprach mein Beſchuͤtzer, und du wirſt
»gleich das Innere in dir ſchauen.
54
sübrigens bin ich eine wahre Perſon
und der wahre Witz; das ſchwoͤre
» ich dir bey mir ſelber, ohne den Arm
»in die Unendlichkeit auszuſtrecken.«
Alles verſchwand nun, und auch der
Witz wuchs und dehnte ſich, bis er
nicht mehr war. Nicht mehr vor
und außer mir, wohl aber in mir
glaubte ich ihn wieder zu finden;
ein Stuͤck meines Selbſt und doch
verſchieden von mir, in ſich leben⸗
dig und ſelbſtſtaͤndig. Ein neuer
Sinn ſchien mir aufgethan; ich ent⸗
deckte in mir eine reine Maſſe von
mildem Licht. Ich kehrte in mich
ſelbſt zuruͤck und in den neuen Sinn,
deſſen Wunder ich ſchaute. Er ſah
ſo klar und beſtimmt, wie ein gei⸗
ſtiges nach Innen gerichtetes Auge:
—
— rn ET Fe
— W —
55
dabey waren aber ſeine Wahrneh—
mungen innig und leiſe wie die des
Gehoͤrs, und ſo unmittelbar wie die
des Gefuͤhls. Ich erkannte bald die
Scene der aͤußern Welt wieder, aber
reiner und verklaͤrt, oben den blauen
Mantel des Himmels, unten den
gruͤnen Teppich der reichen Erde,
die bald von froͤhlichen Geſtalten
wimmelte. Denn was ich nur im
Innerſten wuͤnſchte, lebte und draͤngte
ſich gleich hier, ehe ich ſelbſt den
Wunſch noch deutlich gedacht hatte.
Und ſo ſah ich denn bald bekannte
und unbekannte liebe Geſtalten in
wunderlichen Masken, wie ein großes
Carneval der Luſt und Liebe. Innre
Saturnalien, an ſeltſamer Mannich:
faltigkeit und Zuͤgelloſigkeit der
an
56
großen Vorwelt nicht unwuͤrdig.
Aber nicht lange ſchwaͤrmte das gei⸗
ſtige Bacchanal durch einander, ſo
zerriß dieſe ganze innre Welt wie
durch einen elektriſchen Schlag und
ich vernahm ich weiß nicht wie und
woher die gefluͤgelten Worte: »Ver⸗
»nichten und Schaffen, Eins und
Alles; und jo ſchwebe der ewige
»Geiſt ewig auf dem ewigen Welt⸗
»ſtrome der Zeit und des Lebens
»und nehme jede kuͤhnere Welle wahr,
»ehe fie zerfließt.« — Furchtbar ſchoͤn
und ſehr fremd toͤnte dieſe Stimme
der Fantaſie, aber milder und mehr
wie an mich gerichtet die folgenden
Worte: »Die Zeit iſt da, das innre
»Mefen der Gottheit kann offenbart
»und dargeſtellt werden, alle My—
0
57
»fterien dürfen fich enthuͤllen und die
»Furcht ſoll aufhören. Weihe dich
»ſelbſt ein und verkuͤndige es, daß
»die Natur allein ehrwuͤrdig und
»die Geſundheit allein liebenswuͤrdig
»iſt.« — Bey den geheimnißvollen
Worten, die Zeit iſt da, fiel wie
eine Flocke von himmliſchem Feuer
in meine Seele. Es brannte und
zehrte in meinem Mark; es draͤngte
und ſtuͤrmte ſich zu aͤußern. Ich
griff nach Waffen, um mich in das
Kriegsgetuͤmmel der Leidenſchaften,
die mit Vorurtheilen wie mit Waf⸗
fen wuͤthen, zu ſtuͤrzen und fuͤr die
Liebe und die Wahrheit zu kaͤmpfen:
aber es waren keine Waffen da.
Ich oͤffnete den Mund, um ſie im
Geſang zu verkuͤndigen, und ich
58
dachte, alle Weſen müßten ihn ver:
nehmen und die ganze Welt ſollte
harmoniſch wiederklingen: aber ich
beſann mich, daß meine Lippen die
Kunſt nicht gelernt haͤtten, die Ge⸗
ſaͤnge des Geiſtes nachzubilden. —
»Du mußt das unſterbliche Feuer
nicht rein und roh mittheilen wol⸗
»len,« ſprach die bekannte Stimme
meines freundlichen Begleiters. ⸗Bil⸗
» de, erfinde, verwandle und erhalte
»die Welt und ihre ewigen Geſtalten
sim ſteten Wechſel neuer Trennun⸗
sgen und Vermaͤhlungen. Verhuͤlle
und binde den Geiſt im Buchſta⸗
»ben. Der aͤchte Buchſtabe iſt all⸗
»mächtig und der eigentliche Zauber⸗
»ftab. Er iſt es, mit dem die un⸗
»widerſtehliche Willkuͤhr der hohen
— —
Be a en
— — 5
—
3
TEE BD FERN a Kr ee.
N en
er
59
»Zauberin Fantaſie das erhabene
»Chaos der vollen Natur berührt
»und das unendliche Wort ans Licht
„ruft, welches ein Ebenbild und
Spiegel des göttlichen Geiſtes iſt,
sund welches die Sterblichen Uni—
»verſum nennen.
Wie die weibliche Kleidung vor
der maͤnnlichen, ſo hat auch der
weibliche Geiſt vor dem maͤnnlichen
den Vorzug, daß man ſich da durch
eine einzige kuͤhne Combination uͤber
alle Vorurtheile der Cultur und bür-
gerlichen Conventionen wegſetzen und
mit einemmale mitten im Stande
der Unſchuld und im Schooß der
Natur befinden kann.
60
An wen follte alſo wohl die Rhe⸗
torik der Liebe ihre Apologie der
Natur und der Unſchuld richten als
an alle Frauen, in deren zarten
Herzen das heilige Feuer der goͤtt⸗
lichen Wolluſt tief verſchloſſen ruht,
und nie ganz verloͤſchen kann, wenn
es auch noch ſo ſehr verwahrloſt und
verunreinigt wird? Naͤchſtdem frey⸗
lich auch an die Juͤnglinge, und an
die Männer, die noch Juͤnglinge ge
blieben ſind. Bey dieſen iſt aber
ſchon ein großer Unterſchied zu ma⸗
chen. Man koͤnnte alle Juͤnglinge
eintheilen in ſolche, die das haben,
was Diderot die Empfindung des
Fleiſches nennt, und in ſolche, die es
nicht haben. Eine ſeltne Gabe!
Viele Maler von Talent und Ein⸗
61
ficht ſtreben ihr ganzes Leben ums
ſonſt danach, und viele Virtuoſen
der Maͤnnlichkeit vollenden ihre Lauf—
bahn, ohne eine Ahndung davon
gehabt zu haben. Auf dem gemei:
nen Wege kommt man nicht dahin.
Ein Libertin mag verſtehen mit ei:
ner Art von Geſchmack den Guͤrtel
zu loͤſen. Aber jenen hoͤhern Kunſt⸗
ſinn der Wolluſt, durch den die
maͤnnliche Kraft erſt zur Schoͤnheit \
gebildet wird, lehrt nur die Liebe
allein den Juͤngling. Es iſt Elek⸗
trizitaͤt des Gefuͤhls, dabey aber im
Innern ein ſtilles leiſes Lauſchen,
im Außern eine gewiſſe klare Durch⸗
ſichtigkeit, wie in den hellen Stellen
der Malerey, die ein reizbares Auge
ſo deutlich fuͤhlt. Es iſt eine wun⸗
|
62
derbare Mifchung und Harmonie
aller Sinne: ſo giebt es auch in der
Muſik ganz kunſtloſe, reine, tiefe
Accente, die das Ohr nicht zu ho:
ren, ſondern wirklich zu trinken
ſcheint, wenn das Gemuͤth nach Liebe
durſtet. Übrigens aber moͤchte ſich
die Empfindung des Fleiſches nicht
weiter definiren laſſen. Das iſt auch
unnoͤthig. Genug ſie iſt für Juͤng⸗
| linge der erſte Grad der Liebes kunſt
und eine angeborne Gabe der Frauen,
durch deren Gunſt und Huld allein
ſie jenen mitgetheilt und angebildet
werden kann. Mit den Ungluͤckli⸗
chen, die ſie nicht kennen, muß man
nicht von Liebe reden: denn von
Natur iſt in dem Manne zwar ein
Beduͤrfniß aber kein Vorgefuͤhl der⸗
e
DEE ZELTE a EEE ——
63
ſelben. Der zweyte Grad hat ſchon
etwas Myſtiſches, und koͤnnte leicht
vernunftwidrig ſcheinen wie jedes
Ideal. Ein Mann, der das innere
Verlangen ſeiner Geliebten nicht ganz
füllen und befriedigen kann, verſteht
es gar nicht zu ſeyn, was er doch
iſt und ſeyn ſoll. Er iſt eigentlich
undbrmdgend⸗ Ind kann keine guͤl⸗
tige Ehe ſchließen. Zwar verſchwin⸗
det auch die hoͤchſte endliche Groͤße
vor dem Unendlichen, und durch
bloße Kraft laͤßt ſich alſo das Pro—
blem auch bey dem beſten Willen
nicht aufloͤſen. Aber wer Fantaſie
hat, kann auch Fantaſie mittheilen,
und wo die iſt, entbehren die Lie⸗
benden gern, um zu verſchwenden -
ihr Weg geht nach Innen, ihr Ziel
— |
>
64
ift intenſive Unendlichkeit, Unzertrenn⸗
lichkeit ohne Zahl und Maaß; und
eigentlich brauchen fie nie zu ent⸗
behren, weil jener Zauber alles zu
erſetzen vermag. Aber ſtill von die⸗
ſen Geheimniſſen! Der dritte und
hoͤchſte Grad iſt das bleibende Ge⸗
fuͤhl von harmoniſcher Waͤrme. Wel⸗
cher Juͤngling das hat, der liebt
nicht mehr bloß wie ein Mann,
ſondern zugleich auch wie ein Weib.
In ihm iſt die Menſchheit vollendet,
und er hat den Gipfel des Lebens
erſtiegen. Denn gewiß iſt es, daß
Maͤnner von Natur bloß heiß oder
kalt ſind: zur Waͤrme muͤſſen ſie erſt
gebildet werden. Aber die Frauen
ſind von Natur ſinnlich und geiſtig
warm und haben Sinn fuͤr Waͤrme
jeder Art. Wenn
65
Wenn dieſes tolle kleine Buch
einmal gefunden, vielleicht gedruckt,
und gar geleſen wird, ſo muß es
auf alle gluͤcklichen Juͤnglinge un⸗
gefaͤhr den gleichen Eindruck machen.
Nur verſchieden nach den verſchiede⸗
nen Stufen ihrer Ausbildung. De:
nen vom erſten Grad wird es die
Empfindung des Fleiſches erregen;
die vom zweyten kann es ganz be⸗
friedigen; und denen vom dritten
ſoll bloß warm dabey werden.
Ganz anders wuͤrde es mit den
Frauen ſeyn. Unter ihnen giebt es
keine Ungeweihten; denn jede hat
die Liebe ſchon ganz in ſich, von
deren unerſchoͤpflichem Weſen wir
Juͤnglinge nur immer ein wenig
mehr lernen und begreifen. Schon
Lueinde I. E
eee
66
entfaltet, oder noch im Keime, das
iſt gleich viel. Auch das Maͤdchen
weiß in ihrer naiven Unwiſſenheit
doch ſchon alles, noch ehe der Blitz
der Liebe in ihrem zarten Schooß
gezuͤndet und die verſchloßne Knoſpe
zum vollen Blumenkelch der Luſt
entfaltet hat. Und wenn eine Knoſpe
Gefühl hätte, würde nicht das Vorge⸗
fühl der Blume deutlicher in ihr ſeyn,
als das Bewußtſeyn ihrer ſelbſt? —
Darum giebt es in der weibli⸗
chen Liebe keine Grade und Stufen
der Bildung, überhaupt nichts all⸗
gemeines; ſondern ſo viel Indivi⸗
duen, ſo viel eigenthuͤmliche Arten.
Kein Linné kann uns alle dieſe ſchoͤ⸗
nen Gewaͤchſe und Pflanzen im
großen Garten des Lebens klaſſifiziren
67
und verderben; und nur der einge⸗
weihte Liebling der Goͤtter verſteht
ihre wunderbare Botanik; die goͤtt⸗
liche Kunſt, ihre verhuͤllten Kraͤfte
und Schönheiten zu errathen und
zu erkennen, wann die Zeit ihrer
Bluͤthe ſey und welches Erdreich
ſie beduͤrfen. Da wo der Anfang
der Welt oder doch der Anfang
der Menſchen iſt, da iſt auch der
eigentliche Mittelpunkt der Origina⸗
lität, und kein Weiſer hat die Weib⸗
lichkeit ergruͤndet.
Eines zwar ſcheint die Frauen
in zwey große Klaſſen zu theilen.
Das naͤmlich, ob ſie die Sinne ach⸗
ten und ehren, die Natur, ſich ſelbſt
und die Maͤnnlichkeit: oder ob ſie
dieſe wahre innere Unſchuld verloren
E 2
68
HEBT 3 RE R .
haben, und jeden Genuß mit Reue
erkaufen, bis zur bittern Gefuͤhllo⸗
ſigkeit gegen innere Misbilligung.
Das iſt ja die Geſchichte fo vieler.
Erſt ſcheuen ſie die Maͤnner, dann
werden ſie Unwuͤrdigen hingegeben,
welche ſie bald haſſen oder betruͤgen,
bis ſie ſich ſelbſt und die weibliche
| Beſtimmung verachten. Ihre kleine
Erfahrung halten ſie fuͤr allgemein
und alles andre fuͤr laͤcherlich; der
enge Kreis von Rohheit und Gemein⸗
heit, in dem fie ſich beftändig drehen,
iſt für fie die ganze Welt, und es
faͤllt ihnen gar nicht ein, daß es auch
noch andre Welten geben koͤnne. Fuͤr
dieſe ſind die Maͤnner nicht Men⸗
ſchen, ſondern bloß Maͤnner, eine
eigne Gattung, die fatal aber doch
69
gegen die Langeweile unentbehrlich
iſt. Sie ſelbſt ſind denn auch eine
bloße Sorte, eine wie die andre,
ohne Originalitaͤt und ohne Liebe.
Aber ſind ſie unheilbar weil ſie
ungeheilt ſind? Mir iſt es ſo ein⸗
leuchtend und klar, daß nichts un⸗
natuͤrlicher fuͤr eine Frau ſey als
Pruͤderie (ein Laſter, an das ich nie
ohne eine gewiſſe innerliche Wuth
denken kann) und nichts beſchwer⸗
licher als Unngtuͤrlichkeit, daß ich
keine Graͤnze beſtimmen, und keine
fuͤr unheilbar halten moͤchte. Ich
glaube, ihre U natur kann nie zu⸗
verlaͤßig werden, wenn ſie auch noch
jo viel Leichtigkeit und Unbefangen⸗
heit darin erlangt haben, bis zu
einem Schein von Conſequenz und
70
Charakter. Es bleibt doch nur
Schein; das Feuer der Liebe iſt
durchaus unverloͤſchlich, und noch
unter der tiefſten Aſche gluͤhen
Funken. |
Dieſe heilige Funken zu wecken,
von der Aſche der Vorurtheile zu
reinigen, und wo die Flamme ſchon
lauter brennt, ſie mit beſcheidenem
Opfer zu naͤhren; das waͤre das
hoͤchſte Ziel meines maͤnnlichen Ehr⸗
geizes. Laß mich's bekennen, ich
liebe nicht dich allein, ich liebe die
Weiblichkeit ſelbſt. Ich liebe ſie
nicht bloß, ich bete ſie an, weil ich
die Menſchheit anbete, und weil die
Blume der Gipfel der Pflanze und
ihrer natuͤrlichen Schoͤnheit und Bil⸗
dung iſt.
71
Es iſt die aͤlteſte kindlichſte ein⸗
fachſte Religion, zu der ich zuruͤck⸗
gekehrt bin. Ich verehre als vor⸗
zuͤglichſtes Sinübild der Gottheit das
Feuer; und wo giebts ein ſchoͤneres,
als das was die Natur tief in die
weiche Bruſt der Frauen verſchloß?
— Weihe du mich zum Prieſter, nicht
um es muͤßig zu beſchauen, ſondern
um es zu befreyen, zu wecken, und
zu reinigen: wo es rein iſt, erhaͤlt
es ſich ſelber, ohne Wache und ohne
Veſtalinnen.
Ich ſchreibe und ſchwaͤrme, wie
du ſiehſt, nicht ohne Salbung; aber
es geſchieht auch nicht ohne Beruf,
und zwar goͤttlichen Beruf. Was
darf ſich der nicht zutrauen, zu dem
der Witz ſelbſt durch eine Stimme
72 Ä
vom geöffneten Himmel herab fprach:
»Du bift mein lieber Sohn, an dem
»ich Wohlgefallen habe.« — Und
warum ſoll ich nicht aus eigner
Vollmacht und Willkuͤhr von mir
ſagen: »Ich bin des Witzes lieber
»Sohn;« wie mancher Edle, der
auf Abentheuer durch's Leben wan⸗
derte, von ſich ſagte: »Ich bin des
»Gluͤckes lieber Sohn.“ —
Übrigens wollte ich eigentlich
davon reden, welchen Eindruck die⸗
ſer fantaſtiſche Roman auf die Frauen
machen wuͤrde, wenn der Zufall
oder die Willkuͤhr ihn faͤnde und
oͤffentlich aufſtellte. Es waͤre auch
in der That unſchicklich, wenn ich
dir nicht in aller Kuͤrze mit einigen
kleinen Beweiſen von Weiſſagung
8 — = 3 PPC er
73
und Divination aufwartete, um mein
Recht auf die en dar⸗
zuthun.
Verſtehen wuͤrden mich alle, keine
ſo mißverſtehen und ſo mißbrauchen
wie die uneingeweihten Juͤnglinge.
Viele wuͤrden mich beſſer verſtehen
als ich ſelbſt, aber nur Eine ganz,
und die biſt du. Alle uͤbrigen hoffe
ich wechſelsweiſe anzuziehen und
abzuſtoßen, oft zu verletzen und
eben ſo oft zu verſoͤhnen. Bey je⸗
der gebildeten wird der Eindruck
ganz verſchieden, und ganz eigen
ſeyn; ſo eigen und ſo verſchieden
wie ihre eigenthuͤmliche Art zu ſeyn
und zu lieben. Clementinen wird
das Ganze bloß intereſſiren als eine
Sonderbarkeit, hinter der aber doch
74
wohl etwas ſeyn koͤnnte; einiges in⸗
deſſen wird ſie richtig finden. Man
nennt ſie hart und heftig, und doch
glaube ich an ihre Liebenswuͤrdig⸗
keit. Ihre Heftigkeit verſoͤhnt mich
mit ihrer Haͤrte, obgleich beyde ſich
dem aͤußern Anſchein nach vermeh⸗
ren. Waͤre die Haͤrte allein, ſo
muͤßte ſie Kaͤlte und Mangel an
Herz ſcheinen; die Heftigkeit zeigt,
daß heiliges Feuer da iſt, was durch⸗
brechen will. Du kannſt leicht den⸗
ken, wie ſie einem mitſpielen wuͤrde,
den ſie im Ernſt liebte. Die weiche
und verletzbare Roſamunde wird ſich
eben ſo oft anneigen als wegwen⸗
den, bis »ſcheue Zartheit kuͤhner
wird und nichts als Unſchuld ſieht
»in inn’ger Liebe Thun. Juliane
#3
hat eben fo viel Poeſie als Liebe,
eben ſo viel Enthuſiasmus als Witz:
aber beydes iſt zu iſolirt in ihr, da⸗
rum wird ſie bisweilen uͤber das
kuͤhne Chaos weiblich erſchrecken, und
dem Ganzen etwas mehr Poeſie und
etwas weniger Liebe wuͤnſchen.
Ich koͤnnte ſo noch lange fort⸗
fahren, denn ich ſtrebe aus allen
Kraͤften nach Menſchenkenntniß, und
ich weiß meine Einſamkeit oft nicht
wuͤrdiger anzuwenden, als indem ich
daruͤber reflektire, wie dieſe oder
jene intereſſante Frau in dieſem oder
jenem intereſſanten Verhaͤltniſſe wohl
ſeyn und ſich verhalten duͤrfte. Doch
genug fuͤr jetzt, ſonſt moͤchte es dir
zu viel werden, und die Vielſeitig⸗
keit deinem Propheten uͤbel gerathen.
76
Denke nur nicht fo arg von mir
und glaube, daß ich nicht allein für
dich ſondern für die Mitwelt dichte.
Glaube mir, es iſt mir bloß um
die Objektivität meiner Liebe zu
thun. Dieſe Objektivitaͤt und jede
Anlage zu ihr beſtaͤtigt und bildet
ja eben die Magie der Schrift, und
weil es mir verſagt iſt, meine Flamme
in Geſaͤnge auszuhauchen, muß ich
den ſtillen Zuͤgen das ſchoͤne Ge⸗
heimniß vertrauen. Dabey denke
ich aber eben ſo wenig an die ganze
Mitwelt, als an die Nachwelt.
Und muß es ja eine Welt ſeyn, an
die ich denken ſoll: ſo ſey es am
liebſten die Vorwelt. Die Liebe
ſelbſt ſey ewig neu und ewig jung,
aber ihre Sprache ſey frey und kuͤhn,
7
nach alter klaſſiſcher Sitte, nicht zuͤch—
tiger wie die roͤmiſche Elegie und
die Edelſten der groͤßten Nazion,
und nicht vernuͤnftiger wie der große
Plato und die heilige arte
Idylle uͤber den Mäſſiggang. A
Sieh ich lernte von ſelbſt, und
»ein Gott hat mancherley Weiſen
»mir in die Seele gepflanzt.“ So
darf ich kuͤhnlich ſagen, wenn nicht
von der froͤhlichen Wiſſenſchaft der
Poeſie die Rede iſt, ſondern von
der gottähnlichen Kunſt der Faul⸗
heit. Mit wem ſollte ich alſo lie⸗
ber uͤber den Muͤſſiggang denken
und reden als mit mir ſelbſt? Und
ſo ſprach ich denn auch in jener un⸗
ſterblichen Stunde, da mir der Genius
78
eingab, das hohe Evangelium der
aͤchten Luſt und Liebe zu verkuͤndi⸗
gen, zu mir ſelbſt: »O Muͤſſig⸗
gang, Muͤſſiggang! du biſt die Le⸗
»bensluft der Unſchuld und der Be—
»geiſterung; dich athmen die See⸗
„ligen, und ſeelig ift wer dich hat
und hegt, du heiliges Kleinod! ein⸗
»ziges Fragment von Gottaͤhnlich⸗
»keit, das uns noch aus dem Pa⸗
»radieſe blieb.“ Ich ſaß, da ich jo
in mir ſprach, wie ein nachdenkli⸗
ches Maͤdchen in einer gedankenloſen
Romanze am Bach, ſah den fliehen⸗
den Wellen nach. Aber die Wellen
flohen und floßen ſo gelaſſen, ruhig
und ſentimental, als ſollte ſich ein
Nareiſſus in der klaren Fläche be⸗
ſpiegeln und ſich in ſchoͤnen
79
Egoiſmus berauſchen. Auch mich
haͤtte ſie locken koͤnnen, mich immer
tiefer in die innere Perſpektive mei⸗
nes Geiſtes zu verlieren, wenn nicht
meine Natur ſo uneigennuͤtzig und
ſo praktiſch waͤre, daß ſogar meine
Spekulazion unaufhoͤrlich nur um
das allgemeine Gute beſorgt iſt.
Daher dachte ich auch, ungeachtet
mein Gemuͤth in ſeiner Behaglichkeit
fo matt war, wie die von der ge⸗
waltigen Hitze aufgeloͤſten und hin⸗
geſunknen Glieder, ernſtlich uͤber die
Moͤglichkeit einer dauernden Umar⸗
mung nach. Ich ſann auf Mittel,
das Beyſammenſeyn zu verlaͤngern,
und kuͤnftig lieber alle kindlich ruͤh⸗
renden Elegien über plötzliche Tren⸗
nung zu verbr hüten, als uns wie bis⸗
80
her an dem Komiſchen einer ſolchen
Fuͤgung des Schickſals zu ergoͤtzen,
weil es nun doch einmal geſchehen
und unabaͤnderlich ſey. Erſt nach⸗
dem die Kraft der angeſpannten
Vernunft an der Unerreichbarkeit des
Ideals brach und erſchlaffte, uͤber⸗
ließ ich mich dem Strome der Ge⸗
danken, und hoͤrte willig alle die
bunten Maͤhrchen an, mit denen
Begierde und Einbildung, unwider⸗
ſtehliche Sirenen in meiner eignen
Bruſt, meine Sinne bezauberten. Es
fiel mir nicht ein, das verfuͤhreriſche
Gaukelſpiel unedel zu kritiſiren, un⸗
geachtet ich wohl wußte, daß das
meiſte nur ſchoͤne Luͤge ſey. Die
zarte Muſik der Fantaſie ſchien die
Luͤcken der Sehnſucht auszufuͤllen.
Dank⸗
81
Dankbar nahm ich das wahr und
beſchloß, was das hohe Gluͤck mir
diesmal gegeben, auch kuͤnftig durch
eigne Erfindſamkeit fuͤr uns beide
zu wiederholen, und dir dieſes Ge⸗
dicht der Wahrheit zu beginnen. So
erzeugte ſich der erſte Keim zu dem
wunderſamen Gewaͤchs von Willkuͤhr
und Liebe. Und frey wie es ent:
ſproſſen iſt, dacht' ich, ſoll es auch
uͤppig wachſen und verwildern, und
nie will ich aus niedriger Ordnungs⸗
liebe und Sparſamkeit die lebendige
Fülle von überflüffigen Blättern und
Ranken beſchneiden. N
Gleich einem Weiſen des Orients
war ich ganz verſunken in ein hei⸗
liges Hinbruͤten und ruhiges An⸗
ſchauen der ewigen Subſtanzen, vor⸗
Lucinde I. F
82
züglich der deinigen und der meini⸗
gen. Groͤße in Ruhe, ſagen die
Meiſter, ſey der hoͤchſte Gegenſtand
der bildenden Kunſt; und ohne es
deutlich zu wollen, oder mich un⸗
wuͤrdig zu bemuͤhen, bildete und
dichtete ich auch unſre ewigen Sub⸗
ſtanzen in dieſem wuͤrdigen Styl.
Ich erinnerte mich, und ich ſah uns,
wie gelinder Schlaf die Umarmten
mitten in der Umarmung umfing.
Dann und wann oͤffnete einer die
Augen, laͤchelte uͤber den ſuͤßen
Schlaf des andern und wurde wach
genug, um ein ſcherzendes Wort,
eine Liebkoſung zu beginnen: aber
noch ehe der angefangene Muth⸗
wille geendigt war, ſanken wir beide
feſt verſchlungen in den ſeeligen
83
Schooß einer halbbeſonnenen Selbſt⸗
vergeſſenheit zuruͤck.
Mit dem aͤußerſten Unwillen
dachte ich nun an die ſchlechten
Menſchen, welche den Schlaf vom
Leben ſubtrahiren wollen. Sie ha⸗
ben wahrſcheinlich nie geſchlafen, und
auch nie gelebt. Warum ſind denn
die Goͤtter Goͤtter, als weil ſie mit
Bewußtſeyn und Abſicht nichts thun,
weil ſie das verſtehen und Meiſter
darin ſind? Und wie ſtreben die
Dichter, die Weiſen und Heiligen
auch darin den Goͤttern aͤhnlich zu
werden! Wie wetteifern ſie im Lobe
der Einſamkeit, der Muße, und ei⸗
ner liberalen Sorgloſigkeit und Un⸗
thaͤtigkeit! Und mit großem Recht:
denn alles Gute und Schoͤne iſt
F 2
84
ſchon da und erhält ſich durch feine
eigne Kraft. Was ſoll alſo das un⸗
bedingte Streben und Fortſchreiten
ohne Stillſtand und Mittelpunkt?
Kann dieſer Sturm und Drang der
unendlichen Pflanze der Menſchheit,
die im Stillen von ſelbſt waͤchſt und
ſich bildet, naͤhrenden Saft oder
ſchoͤne Geſtaltung geben? Nichts iſt
es, dieſes leere unpubige, Treiben,
als eine nordiſche Unart und wirkt
auch nichts als Langeweile, fremde
und eigne. Und womit beginnt und
endigt es als mit der Antipathie ge⸗
gen die Welt, die jetzt to, een
iſt? Der unerfahrne Eigendünkel
ahndet gar nicht, daß dies nur Man⸗
gel an Sinn und Verſtand ſey und
haͤlt es fuͤr hohen Unmuth uͤber die
—
85
allgemeine Haͤßlichkeit der Welt und
des Lebens, von denen er doch noch
nicht einmal das leiſeſte Vorgefuͤhl
hat. Er kann es nicht haben, denn
der Fleiß und der Nutzen ſind die To⸗
desengel mit dem feurigen Schwerdt,
welche dem Munſchen die Ruͤckkehr
ins Paradies verwehren. Nur mit
Gelaſſenheit und Sanftmuth, in der
heiligen Stille der aͤchten Paſſivitaͤt
kann man ſich an ſein ganzes Ich
erinnern, und die Welt und das Le⸗
ben anſchauen. Wie geſchieht alles
Denken und Dichten als daß man
ſich der Einwirkung irgend eines
Genius ganz uͤberlaͤßt und hingiebt?
Und doch iſt das Sprechen und
Bilden nur Nebenſache in allen Kuͤn⸗
ſten und Wiſſenſchaften, das Weſenk⸗
—— ——
86
liche iſt das Denken und Dichten,
und das iſt nur durch Paſſivitaͤt
möglich. dreylich ich iſt es eine abſicht⸗
liche, willkürliche „ einſeitige, aber
doch Paſſivitaͤt. Je ſchoͤner das
Klima iſt, je paſſiver iſt man. Nur
Italiaͤner wiſſen zu gehen, und nur
die im Orient verſtehen zu liegen;
wo hat ſich aber der Geiſt zarter
und ſuͤßer gebildet als in Indien?
Und unter allen — iſt
Vornehme ge ei
det, und das eigentliche Prinzip des
Adels.
Endlich wo iſt mehr Genuß, und
mehr Dauer, Kraft und Geiſt des
Genuſſes: bey den Frauen, deren
Verhaͤltniß wir Paſſivitaͤt nennen,
87
oder etwa bey den Männern, bey
denen der Übergang von uͤbereilen⸗
der Wuth zur Langenweile ſchneller
iſt, als der uͤbergang vom Guten
zum Boͤſen?
In der That man ſollte das
Studium des Muͤſſiggangs nicht ſo
ſtraͤflich vernachlaͤſſigen, ſondern es
zur Kunſt und Wiſſenſchaft, ja zur
Religion bilden! Um alles in Eins
zu faſſen: je goͤttlicher ein Menſch
oder ein Werk des Menſchen iſt, je
aͤhnlicher werden ſie der Pflanze;
dieſe iſt unter allen Formen der Na⸗
tur die ſittlichſte, und die ſchoͤnſte.
Und alſo waͤre ja das hoͤchſte vol⸗
lendetſte Leben nichts als ein reines
Vegetiren.
Ich nahm mir vor, mich zufrie⸗
88
den im Genuß meines Dafeyns über
alle doch endliche, und alſo veraͤcht⸗
liche Zwecke und Vorſaͤtze zu erhe⸗
ben. Die Natur ſelbſt ſchien mich
in dieſem Unternehmen zu beſtaͤrken,
und mich gleichſam in vielſtimmigen
Choraͤlen zum fernern Muͤſſiggang
zu ermahnen, als ſich plöglich eine
neue Erſcheinung offenbarte. Ich
glaubte unſichtbarerweiſe in einem
Theater zu ſeyn: auf der einen Seite
zeigten ſich die bekannten Bretter,
Lampen, und bemalten Pappen; auf
der andern ein unermeßliches Ge⸗
draͤnge von Zuſchauern, ein wahres
Meer von wißbegierigen Koͤpfen und
theilnehmenden Augen. An der rech⸗
ten Seite des Vorgrundes war ſtatt
der Dekoration ein Prometheus ab⸗
1
ur
J
55
4
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De NE REN TEEN TERN pn
89
gebildet, der Menſchen verf t
Er war an einer langen Kette ge-
feſſelt, und arbeitete mit der groͤßten
Haſt und Anſtrengung; auch ſtan⸗
den einige ungeheure Geſellen da—
neben, die ihn unaufhoͤrlich antrie⸗
ben und geiſſelten. Leim und an⸗
dre Materialien waren im Überfluß
da; das Feuer nahm er aus einer
großen Kohlenpfanne. Gegenuͤber
zeigte ſich auch als ſtumme Figur
der vergoͤtterte Herkules, wie er ab⸗
gebildet wird mit der Hebe auf dem
Schooß. Vorn auf der Bühne lie⸗
fen und ſprachen eine Menge ju—
gendlicher Geſtalten, die ſehr froͤh⸗
lich waren, und nicht bloß zum
Schein lebten. Die juͤngſten glichen
Amorinen, die mehr erwachſenen
1
n \
fertigte.
—
90
den Bildern von Faunen: aber jeder
hatte feine eigne Manier, eine auf⸗
fallende Originalitaͤt des Geſichts,
und alle hatten irgend eine Ahnlich⸗
keit von dem Teufel der chriſtlichen
Maler oder Dichter; man haͤtte ſie
Satanisken nennen moͤgen. Einer
der kleinſten ſagte: »Wer nicht ver-
achtet, der kann auch nicht achten;
„beides kann man nur unendlich,
sund der gute Ton beſteht darin,
»daß man mit den Menſchen ſpielt.
»Iſt alſo nicht eine gewiſſe äche
»fche Bosheit ei ein weſentliches Stuͤck
»der harmoniſchen Ausbildung ?«
»Nichts iſt toller, ſagte ein andrer,
als wenn die Moraliften euch
„Vorwuͤrfe über den Egoiſmus ma⸗
»chen. Sie haben vollkommen Un⸗
Ke
91
»recht: denn welcher Gott kann dem
»Menſchen ehrwuͤrdig ſeyn, der
» nicht fein eigner Gott iſt? Ihr irrt
»freylich darin, daß ihr ein Ich zu
»haben glaubt; aber wenn ihr in⸗
»deſſen euren Leib und Namen oder
eure Sachen dafür haltet, jo wird
»doch wenigſtens ein Logis bereitet,
»wenn etwa ja noch ein Ich kom⸗
»men ſollte.« — »Und dieſen Pro⸗
»metheus koͤnnt ihr nur recht in Eh⸗
ren halten, ſagte einer der größten;
»er hat euch alle gemacht, und macht
»immer mehrere eures gleichen.“ —
In der That warfen auch die Ge—
ſellen jeden neuen Menſchen, ſowie
er fertig war, unter die Zuſchauer
herab, wo man ihn ſogleich gar
nicht mehr unterſcheiden konnte, ſo
92 |
ähnlich waren fie alle. »Er fehlt
snur in der Methodel« fuhr der
Sataniskus fort: »Wie kann man
„allein Menſchen bilden wollen?
»Das ſind gar nicht die rechten
„Werkzeuge.“ Und dabey winkte er
auf eine rohe Figur vom Gott der
Gaͤrten, die ganz im Hintergrunde
der Buͤhne zwiſchen einem Amor und
einer ſehr ſchoͤnen unbekleideten
Venus ſtand. Darin dachte unſer
Freund Herkules richtiger, der funf⸗
»zig Mädchen in einer Nacht für
das Heil der Menſchheit beſchaͤftigen
konnte, und zwar heroiſche. Er hat
auch gearbeitet und viel grimmige
»Unthiere erwürgt, aber das Ziel
»feiner Laufbahn war doch immer
ein edler Muͤſſiggang, und darum
. De
VE en Tr
we
93
»ift er auch in den Olymp gekom⸗
»men. Nicht jo dieſer Prometheus,
»der Erfinder der Erziehung und Auf:
»klaͤrung. Von ihm habt ihr es, daß
»ihr nie ruhig ſeyn koͤnnt, und euch
»immer ſo treibt; daher kommt es,
»daß ihr, wenn ihr ſonſt gar nichts
»zu thun habt, auf eine alberne
»Weiſe ſogar nach Charakter ſtreben
»müßt, oder euch einer den andern
»beobachten und ergruͤnden wollt.
»Ein ſolches Beginnen iſt niedertraͤch—
»tig. Prometheus aber, weil er die
»Menſchen zur Arbeit verfuͤhrt hat,
»ſo muß er nun auch arbeiten, er
»mag wollen oder nicht. Er wird
»noch Langeweile genug haben, und
» nie von feinen Feſſeln frey werden.
Da dies die Zuſchauer hoͤrten, brachen
94
fie in Thraͤnen aus, und ſprangen
auf die Buͤhne um ihren Vater der
lebhafteſten Theilnahme zu verſichern;
und ſo verſchwand die allegoriſche
Komoͤdie.
Treue und Scherz.
Du biſt doch allein, Lueinde? —
Ich weiß nicht ... vielleicht ... ich
glaube — Bitte, Bitte! liebe Lu⸗
einde. Weißt du wohl wenn die
kleine Wilhelmine, Bitte, Bitte! ſagt,
und man thut's nicht gleich, ſo
ſchreyt ſie's immer lauter und ernſt⸗
hafter, bis ihr Wille geſchieht. —
Alſo das haſt du mir ſagen wollen,
darum ſtuͤrzeſt du ſo außer Athem
ins Zimmer und haſt mich ſo er⸗
ſchreckt? — Sey nicht boͤſe, ſuͤßes
95
Weib! o laß mich, mein Kind! du
Schoͤne! mach mir keine Vorwuͤrfe,
gutes Mädchen! — Nun wirft du
noch nicht bald ſagen: ſchließ die
Thuͤren zu? — So? . . . Gleich will
ich dir antworten. Nur erſt einen
recht langen Kuß, und wieder einen,
dann noch einige und viele andre
mehr. — O, du mußt mich nicht ſo
kuͤſſen, wenn ich vernünftig bleiben
ſoll. Das macht boͤſe Gedanken. —
Die verdienſt du. Kannſt du wirk⸗
Wer haͤtte das denken ſollen! aber
ich weiß wohl, du lachſt bloß weil
du mich auslachen kannſt. Aus
Luſt thuſt du es nicht. Denn wer
ſah nur eben ſo ernſthaft aus wie
ein roͤmiſcher Senator? Recht ent⸗
—— ne nn
96
zuͤckend haͤtteſt du ausſehen koͤnnen,
liebes Kind! mit deinen heiligen
dunkeln Augen, mit deinen langen
ſchwarzen Haaren im glaͤnzenden
Wiederſchein der Abendſonne, wenn
du nicht da geſeſſen haͤtteſt, als
ſaͤßeſt du zu Gericht. Bey Gott! du
haſt mich ſo angeblickt, daß ich or⸗
dentlich zuruͤckfuhr. Ich haͤtte bald
das wichtigſte vergeſſen, und bin
ganz in Confuſion gerathen. Aber
warum ſprichſt du denn gar nicht?
Bin ich dir zuwider? — Nun das
iſt komiſch! du naͤrriſcher Julius!
wen laͤßt du zum Reden kommen?
deine Zaͤrtlichkeit fließt heute ja wie
ein Platzregen. — Wie dein Geſpraͤch
in der Nacht. — O das Halstuch
laſſen Sie nur, mein Herr. — Laſſen?
Nichts
97
Nichts weniger als das. Was ſoll
ſo ein elendes dummes Halstuch?
Vorurtheile! Aus der Welt muß es.
— Wenn uns nur nicht jemand
ſtoͤrt! — Sieht ſie nicht ſchon wie⸗
der aus, als ob ſie weinen wollte!
Du biſt doch wohl? Warum ſchlaͤgt
dein Herz ſo unruhig? Komm, laß
mich's kuͤſſen. Ja du ſagteſt vorhin
von Thuͤren zuſchließen. Gut, aber
fo nicht, nicht hier. Geſchwind her:
unter durch den Garten, nach dem
Pavillon, wo die Blumen ſtehn.
Komm! o laß mich nicht ſo lange
warten. — Wie Sie befehlen, mein
Herr! — Ich weiß nicht, du biſt
heute jo ſonderbar. — Wenn du ans
faͤngſt zu moraliſiren, lieber Freund,
ſo koͤnnten wir eben ſo gut wieder
Lucinde I. G
98
zurückgehen. Lieber gebe ich dir noch
einen Kuß und laufe voran. — O
fliehen Sie nicht ſo ſchnell, Lueinde,
die ra wird Sie doch nicht ein⸗
holen. Du wirſt fallen, Liebe! —
Ich habe dich nicht laͤnger warten
laſſen wollen. Nun ſind wir ja da.
Und du biſt auch eilig. — Und du
ſehr gehorſam. Aber jetzt iſt nicht
Zeit zu ſtreiten. — Ruhig, ruhig! —
Siehſt du, hier kannſt du weichlich
ruhn und wie es recht iſt. Nun wenn
du diesmal nicht .. .. fo haft du gar
keine Entſchuldigung. — Wirſt du⸗
nicht wenigſtens erſt den Vorhang
niederlaſſen? — Du haſt Recht, die
Beleuchtung wird ſo viel reizender.
Wie ſchoͤn glaͤnzt dieſe weiße Huͤf⸗
te in dem rothen Schein.. Warum
.
CCC
33
ke
99
fo kalt, Lueinde? — Lieber, ſetze die
Hy einthen weiter weg, der Geruch
ven mich. — Wie feſt und ſelbſt⸗
ſtaͤndig, wie glatt und fein! Das iſt
—
harmoniſche Ausbildung. — O nein,
Julius! laß, ich bitte dich, ich will
nicht. — Darf ich nicht fuͤhlen, ob
du gluͤhſt wie ich? O ſo laß mich
doch die Schläge deines Herzens laus
ſchen, die Lippen in dem Schnee des
Buſens Fühlen! .... Kannſt du mich
wegdruͤcken? Ich werde mich raͤchen.
Umarme mich feſter, Kuß gegen
Kuß; nein! nicht mehrere, einen ewi⸗
gen. Nimm meine Seele ganz und
gieb mir deine! ... O ſchoͤnes
herrliches Zugleich! Sind wir nicht
Kinder? Sprich doch! wie konn⸗
teſt du nur erſt fo gleichgültig
G 2
—— 3 —Uüà—-—
—
— —
100
und kalt ſeyn, und nachher, wie du
mich endlich feſter an dich zogſt,
machteſt du in demſelben Augenblick
ein Geſicht, als wenn dir etwas
weh thaͤte, als ob es dir leid waͤre,
daß du meine Gluth erwiederteſt.
Was iſt dir? du weinſt? Verbirg
nicht dein Geſicht! Sieh mich an,
Geliebte! — O laß mich hier an
dich liegen, ich kann dir nicht in die
Augen ſehen. Es war recht ſchlecht
von mir, Julius! Kannſt du mir
verzeihen, du liebenswuͤrdiger Mann!
Wirſt du mich nicht verlaſſen? kannſt
du mich noch lieben? — Komm zu
mir, mein ſuͤßes Weib! hier an mei⸗
nem Herzen. Weißt du noch neu⸗
lich, wie ſchoͤn es war, wie du in
meinen Armen weinteſt? wie leicht
IOI
dir wurde? Aber ſprich nun auch,
was iſt dir, Liebe? biſt du boͤſe auf
mich? — Auf mich bin ich boͤſe.
Ich koͤnnte mich ſchlagen ... Dir
freylich waͤre ganz Recht geſchehen;
und wenn Sie ſich kuͤnftig wieder
einmal ehemaͤnnlich betragen, mein
Herr! jo werde ich ſchon beſſer da⸗
fuͤr ſorgen, daß Sie mich auch wie
eine Ehefrau finden ſollen. Darauf
kannſt du dich verlaſſen. Ich muß
lachen, wie es mich uͤberraſcht hat.
Aber bilden Sie ſich nur nicht ein,
mein Herr, daß du ſo unmenſchlich
liebenswuͤrdig biſt. Diesmal war es
eigner Wille, daß ich meinen Vor⸗
ſatz brach. — Der erſte und der
letzte Wille iſt immer der beſte. Da⸗
fuͤr daß die Frauen meiſtens weniger
102
ſagen, als fie meinen, thun fie bis⸗
weilen mehr als ſie wollen. Das iſt
nicht mehr als billig: der gute Wille
verfuͤhrt euch. Der gute Wille iſt
etwas ſehr gutes, aber das iſt
ſchlimm an ihm, daß er immer da
iſt, auch wenn man ihn nicht will.
— Das iſt ein ſchoͤner Fehler. Aber
ihr ſeyd voll von boͤſem Willen und
verſtockt euch darin. — O nein! wenn
wir verſtockt ſcheinen, ſo iſts bloß
weil wir nicht anders koͤnnen und
alſo nicht boͤſe. Wir koͤnnen nicht,
weil wir nicht recht wollen; es iſt
alſo nicht boͤſer Wille, ſondern Man⸗
gel an Willen. Und an wem liegt
da wieder die Schuld als an euch,
daß ihr uns nicht mittheilen wollt
von eurem uͤberfluß, und den guten
103
Willen allein behalten wollt? Übri-
gens iſts ganz wider Willen geſche—
hen, daß ich hier ſo in den Willen
gerathen bin, und ich weiß ſelbſt
nicht, was wir damit wollen. In⸗
deſſen iſts immer beſſer, wenn ich
mein Muͤthchen an einigen Worten
fühle, als wenn ich das ſchoͤne Por:
cellan zerſchluͤge. Bey dieſer Ge—
legenheit habe ich mich doch von
meinem erſten Erſtaunen uͤber Ihr
unerwartetes Pathos, Ihre vortref—
liche Rede und Ihren ruͤhmlichen
Vorſatz etwas erholen koͤnnen. In
der That iſt dies einer der ſeltſam⸗
ſten Streiche von denen, die Sie
mir die Ehre verſchafft haben kennen
zu lernen; und ſoviel ich mich er⸗
innern kann, haben Sie ſchon ſeit
104
einigen Wochen bey Tage nicht in
jo geſetzten und vollen Perioden ge⸗
redet, wie in Ihrer gegenwaͤrtigen
Predigt. Iſt es Ihnen gefaͤllig,
Ihre Meinung in Proſa zu uͤber⸗
ſetzen? — Haſt du den geſtrigen
Abend und die intereſſante Geſell⸗
ſchaft wirklich ſchon ganz vergeſſen?
Freylich, das wußte ich nicht. —
Alſo daruͤber biſt du boͤſe, weil ich
zu viel mit Amalien geſprochen
habe? — Sprechen Sie doch ſo viel
Sie wollen und mit wem Sie wol⸗
\ len. Aber artig ſollſt du mir be
\ gegnen, das will ich haben. — Du
ſprachſt ſo ſehr laut, der Fremde
ſtand gleich daneben, ich war aͤngſt⸗
lich und wußte mir nicht anders zu
helfen. — Als unartig zu ſeyn, weil
105
du ungeſchickt warſt? — Verzeih
mir nur! Ich bekenne mich ſchuldig,
du weißt wie verlegen ich mit dir
in Geſellſchaft bin. Es thut mir
leid in Gegenwart der Andern mit
dir zu ſprechen. — Wie ſchoͤn weiß
er ſich heraus zu reden! — Laß mir
ſo etwas nie hingehen, und ſey
recht aufmerkſam und ſtrenge. Aber
ſieh, was du nun gethan haſt! Iſt es
nicht Entweihung? O nein! es iſt
nicht moͤglich, es iſt mehr als das.
Geſteh mir's nur, es war Eifer:
ſucht. — Den ganzen Abend hatteſt
du mich unfreundlich vergeſſen. Ich
wollte dir heute fruͤh alles ſchreiben,
aber ich habe es wieder zerriſſen. —
Und da ich eben kam? — Verdroß
mich deine gewaltige Eil. — Koͤnnteſt
RER
Deve
106
du mich lieben, wenn ich nicht
fo brennbar und elektriſch wäre?
biſt du es nicht auch? haſt du unſre
erſte Umarmung vergeſſen? In einem
Augenblick iſt die Liebe da, ganz
und ewig, oder gar nicht. Alles
Göttliche und alles Schöne iſt ſchnell
und leicht. Oder ſammelt die Freude
ſich etwa ſo wie Geld und andre
Materien durch ein conſequentes Be⸗
tragen? Wie eine Muſik aus der
Luft, uͤberraſcht uns das hohe Gluͤck,
erſcheint und verſchwindet. — So
biſt du mir erſchienen, du Theurer!
Aber willſt du mir verſchwinden?
Das ſollſt du nicht, ich ſage es dir.
— Ich will nicht. Ich will bey
dir bleiben, uͤberhaupt, und auch
jetzt. Hoͤre, ich habe große Luſt
107
*
einen langen Diſkurs u ie Eifer⸗
ſucht mit dir zu halten: aber eigent⸗
lich ſollten wir erſt die beleidigten
Götter verſoͤhnen. — Lieber erſt den
Diſkurs, und hernach die Goͤtter. —
Du haſt Recht, wir ſind noch nicht
wuͤrdig, und du fuͤhlſt es lange
nach, wann du geſtoͤrt und verſtimmt
wurdeſt. Wie ſchoͤn iſt es, daß du
ſo empfindlich biſt! — Ich bin nicht
empfindlicher wie du, nur anders.
— Nun ſo ſage mir: ich bin nicht
eiferfüchtig; wie kommts, daß du
eiferſuͤchtig biſt? — Bin ich's denn
ohne Urſache? Antworten Sie mir!
— Ich weiß ja nicht was du
meinſt. — Nun eiferſuͤchtig bin ich
eigentlich nicht; aber ſage mir, was
Ihr den ganzen Abend zuſammen
108
gefprochen habt? — Auf Amalien
alſo? iſt das möglich? So eine Kin⸗
derey! Von gar nichts habe ich mit
ihr geſprochen, und darum war es
amuͤſant. Und habe ich nicht eben
ſo lange mit Antonio geſprochen,
den ich doch eine Zeit her faſt alle
Tage ſah? — Ich ſoll alſo wohl
glauben, du ſprichſt mit der koquet⸗
ten Amalia wie mit dem ſtillen ernſt⸗
haften Antonio? Nicht wahr, es iſt
nichts wie klare reine Freundſchaft?
— O nein, das ſollſt du nicht glau⸗
ben, und mußt es auch nicht glau⸗
ben; ſo iſt es gar nicht. Wie kannſt
du mir eine ſolche Albernheit zu⸗
traun? denn etwas recht albernes
iſt es, wenn ſo zwey Perſonen von
verſchiedenem Geſchlecht ſich ein Ver⸗
109
haͤltniß ausbilden und einbilden, wie
reine Freundſchaft. Mit Amalien
iſt es gar nichts, als daß ich ſie
zum Scherz liebe. Ich moͤchte ſie
gar nicht, wenn ſie nicht ein wenig
koquett waͤre. Gaͤbe es nur mehr
ſolche in unſerm Cirkel! eigentlich
muß man alle Frauen im Scherze
lieben. — Julius! ich glaube, du wirſt
ganz naͤrriſch. — Nun verſteh mich
wohl; nicht eigentlich alle, ſondern
nur alle, die liebenswuͤrdig ſind und
die einem eben vorkommen. — Das
iſt alſo weiter nichts als was die
Franzoſen Galanterie und Coquett
nennen. — Weiter nichts, außer
daß ichs mir ſchoͤn nnd witzig denke.
Und dann muͤſſen die Menſchen wif-
ſen, was ſie thun und was ſie
—
110
wollen, und das iſt ſelten der Fall.
Der feine Scherz verwandelt ſich in
ihren Händen gleich wieder in gro:
ben Ernſt. — Dieſes im Scherz lie⸗
ben iſt nur gar nicht ſcherzhaft zu⸗
zuſehen. — Daran iſt der Scherz
unſchuldig; das iſt nichts wie die
fatale Eiferſucht. Verzeih mir, Liebe!
ich will nicht auffahren, aber ich
begreife durchaus nicht wie man ei⸗
ferſuͤchtig ſein kann: denn Beleidi⸗
gungen finden ja nicht Statt unter
Liebenden, ſo wenig wie Wohltha⸗
ten. Alſo muß es Unſicherheit ſeyn,
Mangel an Liebe und Untreue ge⸗
gen ſich ſelbſt. Fuͤr mich iſt das
Gluͤck gewiß und die Liebe Eins mit
der Treue. Freylich wie die Men⸗
ſchen ſo lieben, iſt es etwas anders.
* Er —
— EG
Eu
EEE EZERE
111
Da liebt der Mann in der Frau
nur die Gattung, die Frau im
Mann nur den Grad ſeiner natuͤr⸗
lichen Qualitäten und ſeiner buͤrger—
—
lichen Exiſtenz, und beyde in den
Kindern nur ihr Machwerk und ihr
Eigenthum. Da iſt die Treue ein
Verdienſt und eine Tugend; und da
iſt auch die Eiferſucht an ihrer
Stelle. Denn darin fuͤhlen ſie un⸗
gemein richtig, daß ſie ſtillſchwei⸗
gend glauben, es gäbe ihres Glei⸗
chen viele, und einer ſey als Menſch
ungefaͤhr ſo viel werth wie der
andre, und alle zuſammen nicht eben
ſonderlich viel. — Du haͤltſt alſo die
Eiferſucht fuͤr un en . — als leere
Rohheit und Unbibung. — — Ja oder
für Mißb dung und Verkehrtheit,
.
112
was eben ſo arg, oder noch ärger
ift. Nach jenem Syſtem ift es noch
das beſte, wenn man mit Abſicht
aus bloßer Gefaͤlligkeit und Höflich⸗
keit heirathet; und gewiß muß es
fuͤr ſolche Subjekte eben ſo bequem
als unterhaltend ſeyn, ; im Ve halte
niß der Wechſelverachtüng neben
einander weg zu leben. Beſonders
die Frauen koͤnnen eine ordentliche
Paſſion fuͤr die Ehe beko e und
wenn eine ſolche erſt Geſchmack da⸗
ran findet, ſo geſchieht es leicht, daß
ſie ein halbes Dutzend nach einan⸗
der heirathet, geiſtig oder leiblich;
wo es denn nie an Gelegenheit ge⸗
bricht, mit Abwechſelung delikat zu
ſeyn und viel von der Freundſchaft
zu reden. — Du haſt ſchon vorhin
ſo
4
113
fo geſprochen als hielteſt du uns zur
Freundſchaft unfaͤhig. Iſt das wirk⸗
lich deine Meinung? — Ja! aber
die Unfaͤhigkeit, glaube ich, liegt
mehr in der Freundſchaft als in euch.
Ihr liebt alles, was ihr liebt, ganz,
wie den Geliebten und das Kind.
Dieſen Charakter wuͤrde ſelbſt ein
ſchweſterliches Verhaͤltniß bey euch
annehmen. — Darin haſt du Recht.
— Die Freundſchaft iſt fuͤr euch zu
vielſeitig und zu einſeitig. Sie muß
ganz geiſtig ſeyn und durchaus be⸗
ſtimmte Graͤnzen haben. Dieſe Ab⸗
ſonderung wuͤrde euer Weſen nur
auf eine feinere Art eben ſo vollkom⸗
men zerſtoͤren wie bloße Sinnlichkeit
ohne Liebe. Fuͤr die Geſellſchaft
aber iſt ſie zu ernſt, zu tief und zu
Lucinde I. H
0 4
heilig. — Können denn Menſchen
nicht mit einander reden, ohne da⸗
nach zu fragen, ob ſie Maͤnner oder
Frauen ſind? — Das duͤrfte ſehr
ernſthaft ausfallen. Aufs hoͤchſte
moͤchte es einen intereſſanten Klub
geben. Du verſtehſt was ich meine.
Es waͤre ſchon viel, wenn man da
frey und witzig reden duͤrfte, und
weder zu wild noch zu ſteif waͤre.
Das Feinſte und das Beſte wuͤrde
immer fehlen, was uͤberall, wo ſich
ein bischen gute Geſellſchaft zeigt,
Geiſt und Seele davon iſt. Und
das iſt der Scherz mit der Liebe
und die Liebe zum Scherz, der ohne
den Sinn fuͤr jenen zum Spaß her⸗
abſinkt. Aus dieſem Grunde nehme
ich auch die Zweydeutigkeiten in
115
Schutz. — Thuſt du das im Scherz
oder zum Spaß? — Nein, nein!
ich thue es im vollen Ernſt. — Aber
doch nicht jo ernſthaft und fo feyer⸗
lich wie Pauline und ihr Liebha⸗
ber? — Gott behuͤte! ich glaube, die
ließen die Betglocken anziehen, wenn
fie ſich umarmen, falls es nur ſchick—
lich waͤre. O! es iſt wahr, meine
Freundin, der Menſch iſt von Na⸗
tur eine ernſthafte Beſtie. Man muß
dieſem ſchaͤndlichen und leidigen Han⸗
ge aus allen Kraͤften und von allen
Seiten entgegenarbeiten. Dazu ſind
die Zweydeutigkeiten auch gut, nur
ſind ſie ſo ſelten zweydeutig, und
wenn ſie es nicht ſind und nur ei⸗
nen Sinn zulaſſen, das iſt eben
nicht unſittlich, aber zudringlich und
H 2
|
116
platt. Leichtfertige Gefpräche müffen
geiftig und zierlich und 1
ſeyn, ſo viel als moͤglich; uͤbrigens
aber rüchlos genug. — Das iſt gut,
aber was ſollen ſie grade in der
Geſellſchaft? — Sie ſollen das Ge⸗
ſpraͤch friſch erhalten, wie das Salz
an den Speiſen. Es fraͤgt ſich gar
nicht, warum man ſie ſagen ſoll,
ſondern nur wie man ſie ſagen ſoll.
Denn laſſen kann und darf mans
doch nicht. Es waͤre ja grob mit
einem reizenden Maͤdchen ſo zu re⸗
den, als ob ſie ein geſchlechtsloſes
Amphibion waͤre. Es iſt Pflicht und
Schuldigkeit immer auf das anzu⸗
ſpielen, was ſie iſt und ſeyn wird;
und ſo unzart, ſteif und ſchuldig,
wie die Geſellſchaft einmal beſteht,
117
iſt es wirklich eine komiſche Situa⸗
zion, ein unſchuldiges Maͤdchen zu
ſeyn. — Das erinnert mich an den
beruͤhmten Buffo der ſelbſt oft ſehr
traurig war, waͤhrend er alle zu
lachen machte. — Die Geſellſchaft iſt
ein Chaos, das nur durch Witz zu
bilden und in Harmonie zu bringen
iſt; und wenn man nicht ſcherzt und
taͤndelt mit den Elementen der Lei⸗
denſchaft, ſo ballt ſie ſich in dicke
Maſſen und verfinſtert alles. — So
moͤgen hier wohl Leidenſchaften in
der Luft ſeyn: denn es iſt beynah
finſter. — Gewiß haben Sie Ihre
Augen zugeſchloſſen, Dame meines
Herzens! Sonſt wuͤrde eine allge⸗
meine Klarheit unfehlbar das Zim⸗
mer durchſtrahlen. — Wer iſt wohl
une!
118
leidenſchaftlicher, Julius! ich oder
du? — Wir ſind's beide genug.
Ohne das moͤchte ich nicht leben.
Und ſieh! darum koͤnnte ich mich
mit der Eiferſucht ausſoͤhnen. Es
iſt alles in der Liebe: Freundſchaft,
ſchoͤner Umgang, Sinnlichkeit und
auch Leidenſchaft; und es muß alles
darin ſeyn, und eins das andre ver⸗
ſtaͤrken und lindern, beleben und er⸗
hoͤhen. — Laß dich umarmen, du
Treuer! — Aber nur unter einer
Bedingung kann ich dir die Eifer⸗
ſucht erlauben. Ich habe oft ge⸗
fuͤhlt, daß eine kleine Doſis von ge⸗
bildetem, verfeinertem Zorn einen
Mann nicht uͤbel kleidet. Vielleicht
iſt's dir ſo mit der Eiferſucht. —
Getroffen! und alſo brauche ich ſie
119
nicht ganz abzuſchwoͤren. — Wenn
ſie ſich nur immer ſo ſchoͤn und ſo
witzig aͤußerte wie heute bey dir! —
Findeſt du das? Nun wenn du das
naͤchſtemal ſchoͤn und witzig auf:
faͤhrſt, werde ich dir's auch ſagen
und dich loben. — Sind wir nun
nicht wuͤrdig, die beleidigten Goͤtter
zu verſoͤhnen? — Ja, wenn dein
Diskurs ganz zu Ende iſt, ſonſt
ſage noch das uͤbrige. —
Lehrjahre der Maͤnnlichkeit.
Pharao zu ſpielen mit dem An⸗
ſcheine der heftigſten Leidenſchaft
und doch zerſtreut und abweſend zu
ſeyn; in einem Augenblicke von Hitze
alles zu wagen und ſobald es ver-
loren war, ſich gleichguͤltig wegzu⸗
120
wenden: das war nur eine von den
ſchlimmen Gewohnheiten, unter de⸗
nen Julius ſeine wilde Jugend ver⸗
ſtuͤrmte. Dieſe eine iſt genug, den
Geiſt eines Lebens zu ſchildern . wel⸗
ches in der Fülle der empörten Kraͤfte
ſelbſt den unvermeidlichen Keim ei⸗
nes fruͤhen Verderbens enthielt. Eine
Liebe ohne Gegenſtand brannte in
ihm und zerruͤttete ſein Innres. Bey
dem geringſten Anlaß brachen die
Flammen der Leidenſchaft aus; aber
bald ſchien dieſe aus Stolz oder aus
Eigenſinn ihren Gegenſtand ſelbſt
zu verſchmaͤhen, und wandte ſich
mit verdoppeltem Grimme zuruͤck in
ſich und auf ihn, um da am Mark
des Herzens zu zehren. Sein Geiſt
war in einer beſtaͤndigen Gaͤhrung;
121
er erwartete in jedem Augenblick, es
muͤſſe ihm etwas außerordentliches
begegnen. Nichts wuͤrde ihn be⸗
fremdet haben, am wenigſten ſein
eigner Untergang. Ohne Geſchaͤft
und ohne Zweck trieb er ſich umher
unter den Dingen und unter den
Menſchen wie einer, der mit Angſt
etwas ſucht, woran ſein ganzes
Gluͤck haͤngt. Alles konnte ihn rei⸗
zen, nichts mochte ihm genuͤgen.
Daher kam es, daß ihm eine Aus⸗
ſchweifung nur ſo lange intereſſant
war, bis er ſie verſucht hatte und
naͤher kannte. Keine Art derſelben
konnte ihm ausſchließend zur Ge⸗
wohnheit werden: denn er hatte eben
ſo viel Verachtung als Leichtſinn.
Er konnte mit Beſonnenheit ſchwelgen
122
und fich in den Genuß gleichſam ver⸗
tiefen. Aber weder hier noch in den
mancherley Liebhabereyen und Stu⸗
dien, auf die ſich oft ſein jugendli⸗
cher Enthuſiasmus mit einer ges
fraͤßigen Wißbegier warf, fand er
das hohe Gluͤck, das ſein Herz mit
ungeſtüm foderte. Spuren davon
zeigten ſich uͤberall, taͤuſchten und
erbitterten ſeine Heftigkeit. Am mei⸗
ſten Reiz hatte der Umgang aller
Art fuͤr ihn und ſo oft er auch ſo⸗
gar ſie uͤberdruͤßig ward, waren es
doch die geſellſchaftlichen Zerſtreuun⸗
gen, zu denen er endlich immer wie⸗
der zuruͤckkehrte. Die Frauen kannte
er eigentlich gar nicht, ungeachtet er
ſchon fruͤh gewohnt war, mit ihnen
zu ſeyn. Sie erſchienen ihm wun⸗
123
derbar fremd, oft ganz unbegreiflich
und kaum wie Weſen ſeiner Gat⸗
tung. Junge Maͤnner aber, die
ihm einigermaßen glichen, umfaßte
er mit heißer Liebe und mit einer
wahren Wuth von Freundſchaft. Doch
war das allein fuͤr ihn noch nicht
das rechte. Es war ihm, als wolle
er eine Welt umarmen und koͤnne
nichts greifen. Und ſo verwilderte
er denn immer mehr und mehr aus
unbefriedigter Sehnſucht „ ward ſinn⸗
lich aus Verzweiflung am Geiſtigen, |
beging unkluge Handlungen aus
Trotz gegen das Schickſal und war
wirklich mit einer Art von Treuher⸗
zigkeit unſittlich. Er ſah wohl den
Abgrund vor ſich, aber er hielt es
nicht der Muͤhe werth, ſeinen Lauf
124
zu mäßigen. Er wollte lieber gleich
einem wilden Jäger den jaͤhen Ab⸗
hang raſch und muthig durchs Le⸗
ben hinunterſtuͤrmen, als ſich mit
Vorſicht langſam quaͤlen.
Bey dieſem Charakter mußte er
oft in der geſelligſten und froͤhlich⸗
ſten Geſellſchaft einſam ſeyn, und
er fand ſich eigentlich am wenigſten
allein, wenn niemand bey ihm war.
Dann berauſchte er ſich in Bildern
der Hoffnung und Exinnerung und
ließ ſich abſichtlich von ſeiner eignen
Fantaſie verfuͤhren. Jeder ſeiner
Wuͤnſche ſtieg mit unermeßlicher
Schnelligkeit und faſt ohne Zwiſchen⸗
raum von der erſten leiſen Regung
zur graͤnzenloſen Leidenſchaft. Alle
ſeine Gedanken nahmen ſichtbare
125
Geftalt und Bewegung an und wirk—
ten in ihm und wider einander mit
der ſinnlichſten Klarheit und Gewalt.
Sein Geiſt ſtrebte nicht die Zuͤgel
der Selbſtherrſchaft feſt zu halten,
ſondern warf ſie freywillig weg, um
ſich mit Luſt und mit uͤbermuth in
dies Chaos von innerm Leben zu
ſtuͤrzen. Er hatte weniges erlebt
und war doch voll von Erinnerun⸗
gen, auch aus fruͤher Jugend: denn
ein ſonderbarer Augenblick von lei⸗
denſchaftlicher Stimmung, ein Ge⸗
ſpraͤch, ein Geſchwaͤtz aus der Tiefe
des Herzens blieb ihm ewig theuer
und deutlich, und noch nach Jahren
wußte er's genau, als waͤre es ge⸗
genwaͤrtig. Aber alles was er liebte
und mit Liebe dachte, war abge⸗
U An
126
riffen und einzeln. Sein ganzes Da⸗
ſeyn war in ſeiner Fantaſie eine
Maſſe von Bruchſtuͤcken ohne Zu⸗
ſammenhang; jedes fuͤr ſich Eins
und Alles, und das andre, was in
der Wirklichkeit daneben ſtand und
damit verbunden war, fuͤr ihn gleich⸗
guͤltig und ſo gut wie gar nicht
vorhanden.
Noch war er nicht ganz verdor⸗
ben, als im Schooß der einſamen
Wuͤnſche ein heiliges Bild der Un⸗
ſchuld in ſeine Seele blitzte. Ein
Strahl von Verlangen und Erinne⸗
rung traf und entzuͤndete ſie und
dieſer gefährliche Traum war ent⸗
ſcheidend fuͤr ſein ganzes Leben.
Er gedachte an ein edles Maͤd⸗
chen, mit dem er in ruhigen gluͤck⸗
127
lichen Zeiten der frifchen Jugend aus
reiner kindlicher Zuneigung freund—
lich und fröhlich getaͤndelt hatte. Da .
er der erſte war, welcher ſie durch
ſein Intereſſe an ihr reizte, ſo wandte
auch das liebliche Kind ihre junge
Seele nach ihm hin, wie ſich die
Blume zum Licht der Sonne neigt.
Daß ſie kaum reif und noch an der
Graͤnze der Kindheit war, reizte ſein
Verlangen nur um fo unwiderſteh—
licher. Sie zu beſitzen, ſchien ihm
das hoͤchſte Gut; er war entſchloſ⸗
ſen alles zu wagen und glaubte
nicht ohne das leben zu konnen.
Dabey verabſcheute er die entfern⸗
teſte Erinnerung an buͤrgerliche Ver⸗
haͤltniſſe, wie jede Art von Zwang.
Er eilte zuruͤck in ihre Naͤhe und
—
e
128
fand ſie ausgebildeter, aber noch
eben ſo edel und eigen, ſo ſinnig
und ſtolz wie ehedem. Was ihn
noch mehr reizte als ihre Liebens⸗
wuͤrdigkeit, waren die Spuren von
tiefem Gefuͤhl. Sie ſchien nur froͤh⸗
lich und leichtfertig durchs Leben zu
ſchwaͤrmen wie uͤber eine blumen⸗
reiche Ebne, und verrieth doch ſeinem
aufmerkſamen Auge die entſchiedenſte
Anlage zu einer graͤnzenloſen Leiden⸗
ſchaftlichkeit. Ihre Neigung, ihre
Unſchuld und ihr verſchwiegenes und
verſchloſſenes Weſen boten ihm leicht
Mittel dar, ſie allein zu ſehen, und
die Gefahr, die damit verbunden
war, erhoͤhte den Reiz des Unter⸗
nehmens. Aber mit Verdruß mußte
er ſich's geſtehen, daß er ſeinem
Ziele
129
Ziele nicht näher kam und ſchalt fich
zu ungeſchickt, ein Kind zu verfuͤh—
ren. Willig uͤberließ ſie ſich einigen
Liebkoſungen und erwiederte ſie mit
ſchuͤchterner Luͤſternheit. Sobald er
aber dieſe Graͤnzen zu uͤberſchreiten
beleidigt zu ſcheinen, mit unerbitt⸗
lichem Eigenſinn; vielleicht mehr aus
Glauben an ein fremdes Gebot als
aus eignem Gefuͤhl von dem, was
allenfalls erlaubt ſey und von dem,
was durchaus nicht.
Indeſſen wurde er nicht muͤde
zu hoffen und zu beobachten. Einſt
uͤberraſchte er fie, als fie es am we⸗
nigſten erwartete. Sie war ſchon
lange allein geweſen und mochte ſich
ihrer Fantaſie und einer unbeſtimm⸗
Lucinde I. J
130
ten Sehnſucht mehr als gewöhnlich
uͤberlaſſen haben. Da er dies ge—
wahr ward, wollte er den Augen⸗
blick, der vielleicht nie wieder kaͤme,
nicht verſcherzen und gerieth durch
die plögliche Hoffnung ſelbſt in einen
Taumel von Begeiſterung.“ Ein
Strom von Bitten, von Schmeiche⸗
leien und von Sophismen floß von
ſeinen Lippen. Er bedeckte ſie mit
Liebkoſungen und er gerieth außer
ſich vor Entzuͤcken, da das liebens⸗
wuͤrdige Koͤpfchen endlich an ſeine
Bruſt ſank, wie ſich die zu volle
Blume an ihrem Stengel ſenket.
Ohne Zuruͤckhaltung ſchmiegte ſich
die ſchlanke Geſtalt um ihn, die
ſeidnen Locken der goldnen Haare
floſſen uͤber ſeine Hand, mit zaͤrt⸗
. ner he
131
licher Sehnſucht öffnete ſich die
Knoſpe des ſchoͤnen Mundes, und
aus den frommen dunkelblauen
Augen ſtrahlte und ſchmachtete ein
ungewohntes Feuer. Sie ſetzte den
kuͤhnſten Liebkoſungen nur noch
ſchwachen Widerſtand entgegen. Bald
hörte auch dieſer auf, fie ließ ploͤtz—
lich ihre Arme ſinken, und alles war
ihm hingegeben, der zarte jungfraͤu⸗
liche Leib und die Früchte des jun⸗
gen Buſens. Aber in demſelben Au—
genblick brach ein Strom von Thraͤ⸗
nen aus ihren Augen, und die bit⸗
terſte Verzweiflung entftellte ihr Ges |
ſicht. Julius erſchrack heftig; nicht
ſowohl uͤber die Thraͤnen, aber er
kam nun mit einem male zur vollen
Beſinnung. Er dachte an alles was
2
— —
132
vorhergegangen war, und was nun
folgen wuͤrde; an das Opfer vor
ihm und an das arme Schickſal der
Menſchen. Da uͤberlief ihn ein kal⸗
ter Schauder, ein leiſer Seufzer ſtahl
ſich aus tiefer Bruſt uͤber ſeine Lip⸗
pen. Er verſchmaͤhte ſich ſelbſt von
der Hoͤhe ſeines eignen Gefuͤhls, und
vergaß die Gegenwart und ſeine Ab⸗
ſicht in Gedanken von allgemeiner
Sympathie.
Der Augenblick war verſaͤumt.
Er ſuchte nur das gute Kind zu troͤ⸗
ſten und zu beſaͤnftigen, und eilte
mit Abſcheu von dem Orte hinweg,
wo er den Bluͤthenkranz der Un⸗
ſchuld muthwillig hatte zerreißen
wollen. Er wußte wohl, daß man⸗
cher ſeiner Freunde, der noch weniger
133
an weibliche Tugend glaubte wie er,
fein Benehmen ungeſchickt und laͤ⸗
cherlich finden würde. Er war bey:
nah ſelbſt dieſer Meinung, da er
wieder mit Kälte zu überlegen an⸗
fing. Indeſſen hielt er ſeine Dumm⸗
heit doch fuͤr ausgezeichnet und in—
tereſſant. Er glaubte, es ſey noth⸗
wendig, daß edle Naturen in ge⸗
meinen Verhaͤltniſſen und in den
Augen der Menge einfaͤltig oder ra—
ſend erſcheinen muͤßten. Da bey
dem naͤchſten Wiederſehn, wie er
ſchlau bemerkte oder ſich einbildete,
das Maͤdchen eher unzufrieden ſchien,
daß es nicht ganz verfuͤhrt ſey, be⸗
ſtaͤtigte er ſich in ſeinem Mißtrauen
und gerieth in eine große Erbitte⸗
rung. Es wandelte ihn beynah
134
eine Art von Verachtung an, zu der
er doch ſo wenig berechtigt war.
Er floh, zog ſich wieder in die alte
Einſamkeit zuruͤck und verzehrte ſich
in ſeiner eignen Sehnſucht.
So lebte er von neuem eine Zeit
auf die alte Weiſe in einem Wechſel
von Schwermuth und Ausgelaſſen⸗
heit. Der einzige Freund, der Kraft
und Ernſt genug hatte, ihn troͤſten
und beſchaͤftigen zu koͤnnen und auf
dem Wege zum Verderben einzuhal⸗
ten, war weit entfernt, und ſeine
Sehnſucht alſo auch von dieſer Seite
unbefriedigt. Heftig ſtreckte er einſt
die Arme nach ihm aus, als muͤſſe
er nun endlich da ſeyn, und troſt⸗
los ließ er ſie wieder ſinken, nach⸗
dem er lange vergeblich gewartet.
135
Er vergoß keine Thraͤne, aber ſein
Geiſt fiel in eine Agonie von hoff:
nungsloſer Wehmuth, aus der er
ſich nur zu neuen Thorheiten er⸗
mannte.
Er freute ſich laut, da er im
Glanz der prachtvollen Morgenſonne
auf die Stadt zuruͤckſah, die er
ſchon als Kind geliebt und wo er
nur noch eben ſo ganz lebte, und
die er nun auf immer zu verlaſſen
hoffte. Er athmete ſchon das friſche
Leben der neuen Heimath, die ihn
in der Fremde erwarten ſollte, und
deren Bilder er ſchon mit Heftig⸗
keit liebte.
Er fand bald einen andern rei⸗
zenden Wohnort, wo ihn zwar
nichts feſſelte, aber doch vieles an⸗
136
zog. Alle feine Kräfte und Neigun⸗
gen wurden rege durch die neuen
Gegenſtaͤnde; ohne Zweck und Maaß
in ſeinem Innern, nahm er Theil
an allem Außern, was nur irgend
merkwürdig war, und ließ ſich
uͤberall ein.
Da er auch in dieſem Geraͤuſch
bald Leerheit und uͤberdruß empfand,
ſo kehrte er oft zuruͤck zu ſeinen
einſamen Traͤumen und wiederholte
das alte Gewebe ſeiner unbefriedig⸗
ten Wuͤnſche. Eine Thraͤne entfiel
ihm uͤber ſich ſelbſt, da er einſt im
Spiegel ſah, wie truͤbe und ſtechend
das Feuer der unterdruͤckten Liebe
aus ſeinem dunkeln Auge brannte
und wie ſich unter der wilden ſchwar⸗
zen Locke leiſe Furchen in die
137
kaͤmpfende Stirn gruben, und wie
die Wange ſo bleich war. Er ſeufzte
uͤber ſeine ungenutzte Jugend; ſein
Geiſt empoͤrte ſich und waͤhlte unter
den ſchoͤnen Frauen ſeiner Bekannt⸗
ſchaft die, welche am freyſten lebte
und am meiſten in der guten Ge⸗
ſellſchaft glaͤnzte. Er nahm ſich vor,
nach ihrer Liebe zu ſtreben und er
erlaubte ſeinem Herzen, ſich ganz
zu uͤberfuͤllen mit dieſem Gegenſtande.
Was ſo wild und willkuͤhrlich begon-
nen wurde, konnte nicht geſund en⸗
digen, und die Dame, welche eben
ſo eitel als ſchoͤn war, mußte es
ſonderbar und mehr als ſonderbar
finden, wie Julius ſie mit der ernſt⸗
hafteſten Aufmerkſamkeit foͤrmlich zu
umgeben und zu belagern anfing
138
und dabey bald jo dreist und zu⸗
verſichtlich war wie ein alter Be⸗
ſitzer, bald ſo ſchuͤchtern und fremd
wie ein voͤllig Unbekannter. Da er
ſich ſo ſeltſam zeigte, haͤtte er bey
weitem reicher ſeyn muͤſſen, als er
war, um ſolche Anſpruͤche haben zu
duͤrfen. Sie hatte ein leichtes, mun⸗
teres Weſen und ihm ſchien ſie ar⸗
tig zu reden. Aber was er an der
Geliebten fuͤr goͤttlichen Leichtſinn
nahm, war nichts als ein gedan⸗
kenloſes Schwaͤrmen ohne eigentliche
Freude und Froͤhlichkeit, und auch
ohne Geiſt, ausgenommen ſo viel
Verſtand und Schlauigkeit, als es
braucht, um alles abſichtlich und
zwecklos zu verwirren, die Maͤnner
zu locken und zu lenken und ſich
139
ſelbſt in Schmeicheleyen zu berau⸗
ſchen. Zu ſeinem Ungluͤcke erhielt
er einige Zeichen von Gunſt; von
der Art, welche die Geberin nicht
binden, weil ſie ſich nie dazu be⸗
kennen darf und welche den gefan—
genen Neuling durch den Zauber
der Heimlichkeit noch unaufloͤslicher
feſſeln. Ihn konnte ſchon ein ver⸗
ſtohlner Blick und Haͤndedruck ganz
bezaubern, oder ein Wort, was vor
allen geſagt in ſeiner eigentlichen
Beziehung und Anſpielung nur ihm
verſtaͤndlich war, wenn die einfache
und wohlfeile Gabe nur durch den
Schein einer eignen ſonderbaren Be:
deutſamkeit gewuͤrzt wurde. Sie gab
ihm, wie er glaubte, ein noch deut⸗
licheres Zeichen und es beleidigte ihn
140
tief, daß fie ihn ſo wenig verſtehe,
daß ſie ihm ſo ſehr zuvorkomme. Er
war nicht wenig ſtolz darauf, daß
ihn das beleidigte und doch reizte
es ihn unwiderſtehlich, wenn er
dachte, er duͤrfe nur ſchnell ſeyn
und die guͤnſtige Gelegenheit ergrei⸗
fen, um ohne Hinderniß ans Ziel
zu gelangen. Er machte ſich ſchon
bittre Vorwuͤrfe uͤber ſeine Langſam⸗
keit, als er ploͤtzlich Verdacht ſchoͤpfte,
ihr Zuvorkommen ſey nur Taͤuſchung,
ſie meine es auch mit ihm nicht ehr⸗
lich; und da ein Freund ihn vollends
aufklaͤrte, konnte ihm kein Zweifel
bleiben. Er ſah, daß man ihn laͤ⸗
cherlich finde und mußte ſich geſtehn,
daß es ganz in der Ordnung ſey.
Daruͤber gerieth er etwas in Wuth
141
und haͤtte leicht Unheil begonnen,
wenn er dieſe leeren Menſchen, ihre
kleinen Verhaͤltniſſe und Mißver⸗
haͤltniſſe und das ganze Spiel ge
heimer Abſichten und Ruͤckſichten
nicht genau beobachtet und alſo
gruͤndlich verachtet haͤtte. Auch wurde
er wieder ungewiß und da ſein Arg⸗
wohn nun keine Graͤnzen mehr
kannte, ſo war er gegen ſein eignes
Mißtrauen mißtrauiſch. Bald ſah
er den Grund des Übels nur in ſei⸗
nem Eigenſinne und uͤbertriebnem
Zartgefuͤhl und faßte dann neue
Hoffnung und neues Zutrauen; bald
ſah er in allem Ungluͤck, was ihn
in der That abſichtlich zu verfolgen
ſchien, nur das kuͤnſtliche Werk ihrer
Rache. Alles ſchwankte, nur das
142
ward ihm immer klarer und fefter,
daß vollendete Narrheit und Dumm⸗
heit im Großen das eigentliche Vor⸗
recht der Maͤnner ſey, muthwillige
Bosheit hingegen mit naiver Kälte
und lachender Gefüͤhlloſigkeit eine
angebohrne Kunſt der Frauen. Das
war alles, was er lernte durch ſein
angeſtrengtes Beſtreben nach Men⸗
ſchenkenntniß. Im Einzelnen ver⸗
fehlte er immer auf eine ſcharfſinnige
Art das rechte, weil er uͤberall kuͤnſt⸗
liche Abſichten vorausſetzte und tie⸗
fen Zuſammenhang, und gar keinen
Sinn hatte fuͤr das Unbedeutende.
Dabey wuchs feine Leiden ſchaft zum
Spiel, deſſen zufaͤllige Verwickelun⸗
gen, Sonderbarkeiten und Gluͤcks⸗
fälle ihn auf eben die Art intereſ⸗
143
firten, wie wenn er in hoͤhern Ver⸗
haͤltniſſen mit ſeinen Leidenſchaften
und ihren Gegenſtaͤnden aus reiner
Willkuͤhr ein hohes Spiel wagte oder
zu wagen glaubte.
So verwirrte er ſich immer tie—
fer in die Intriguen einer ſchlechten
Geſellſchaft und was ihm noch übrig
blieb von Zeit und Kraft in dem
Wirbel der Zerftreuungen‘, wandte
er auf ein Maͤdchen, die er ſo ſehr
als moͤglich allein zu beſitzen ſtrebte,
obgleich er ſie unter denen gefunden
hatte, die beynah oͤffentlich ſind.
Was ſie ihm ſo intereſſant machte,
war nicht allein das weshalb ſie all⸗
gemein geſucht und gleichſam be⸗
ruͤhmt war, ihre ſeltne Gewandtheit
und unerſchoͤpfliche Mannichfaltigkeit
*
144
in allen verfuͤhreriſchen Kuͤnſten der
Sinnlichkeit. Ihr naiver Witz uͤber⸗
raſchte ihn mehr und reizte ihn am
meiſten, wie die hellen Funken von
rohem tuͤchtigem Verſtand, vorzuͤg⸗
lich aber ihre entſchiedne Manier
und ihr konſequentes Betragen. Mit⸗
ten im Stande der aͤußerſten Ver⸗
derbtheit zeigte ſie eine Art von Cha⸗
rakter; ſie war voll von Eigenhei⸗
ten und ihr Egoismus nicht im ge⸗
meinen Styl. Naͤchſt der Unabhaͤn⸗
gigkeit liebte ſie nichts ſo unmaͤßig
wie das Geld, aber ſie wußte es
zu brauchen. Dabey war ſie billig
gegen jeden, der nicht ſehr reich war
und ſelbſt gegen die andern treuher⸗
zig in ihrer Habſucht und ohne
Raͤnke. Sie ſchien ganz ſorgenlos
nur
9
145
nur in der Gegenwart zu leben und
war doch immer auf die Zukunft
bedacht. Sie ſparte im Kleinen, um
nach ihrer Art im Großen zu ver⸗
ſchwenden und im Überflüffigen das
Beſte zu haben. Ihr Boudoir war
einfach und ohne alle gewoͤhnlichen
Meublen, nur von allen Seiten
große, koſtbare Spiegel und wo noch
Raum uͤbrig blieb, einige gute Co⸗
pien von den wolluͤſtigſten Gemaͤl⸗
den des Correggio und Tizian, des⸗
gleichen einige ſchoͤne Originale von
friſchen, vollen Blumen⸗ und Frucht⸗
ſtuͤcken; ſtatt der Lambris die leben⸗
digſten und froͤhlichſten Darſtellun⸗
gen in Basreliefs aus Gips nach der
Antike; ſtatt der Stuͤhle aͤchte orien⸗
taliſche Teppiche und einige Gruppen
Lucinde I. K
146
aus Marmor in halber Lebensgroͤße:
ein gieriger Faun, der eine Nymphe,
die im Fliehen ſchon gefallen iſt,
eben voͤllig uͤberwinden wird; eine
Venus, die mit aufgehobenem Ge⸗
wande laͤchelnd uͤber den wolluͤſtigen
Ruͤcken auf die Huͤften ſchaut und
andre aͤhnliche Darſtellungen. Hier
ſaß ſie oft auf tuͤrkiſche Sitte Tage
lang allein und die Haͤnde muͤſſig
im Schooß, denn ſie verabſcheute
alle weiblichen Arbeiten. Sie er⸗
friſchte ſich nur von Zeit zu Zeit
mit Wohlgeruͤchen und ließ ſich da⸗
bey von ihrem Jockey, einem bild⸗
ſchoͤnen Knaben, den ſie ſich in ſei⸗
nem vierzehnten Jahre eigends ver⸗
führt hatte, Geſchichten, Reiſebe⸗
ſchreibungen und Maͤhrchen vorleſen.
147
Sie gab wenig darauf Acht, außer
wenn etwas Laͤcherliches vorkam, oder
eine allgemeine Bemerkung, die ſie
auch wahr fand. Denn ſie achtete
nichts und hatte Sinn fuͤr nichts
als fuͤr Realitaͤt und fand alle Poeſie
laͤcherlich. Sie war einmal Schau⸗
ſpielerin geweſen, aber nur kurze
Zeit, und ſie machte ſich gern luſtig
uͤber ihr Ungeſchick dazu und uͤber
die Langeweile, die ſie dabey aus⸗
geſtanden. Es war eine von ihren
vielen Eigenheiten, daß fie bey fol-
chen Gelegenheiten in der dritten Per⸗
ſon von ſich ſprach. Auch wenn ſie
erzaͤhlte, nannte ſie ſich nur Liſette,
und ſagte oft, wenn ſie ſchreiben
koͤnnte, wollte ſie ihre eigne Ge⸗
ſchichte ſchreiben, aber ſo als ob es
82
148
ein andrer wäre. Für Muſik hatte
fie gar kein Gefühl, für_die bilden⸗
den Kuͤnſte aber jo viel, daß Julius
oft mit ihr uͤber ſeine Arbeiten und
Ideen ſprach, und die Skizzen fuͤr
die beſten hielt, die er unter ihren
Augen und bey ihrem Geſpraͤch ent⸗
worfen hat. Doch ſchaͤtzte ſie an
Statuen und an Zeichnungen nur
die lebendige Kraft, und an Gemaͤl⸗
den nur den Zauber der Farben, die
Wahrheit des Fleiſches und allenfalls
die Taͤuſchung des Lichtes. Sprach
ihr jemand von Regeln, vom Ideal
und von der ſogenannten Zeichnung,
ſo lachte ſie oder hoͤrte nicht zu.
Selbſt etwas zu verſuchen, ſo viele
bereitwillige Lehrer ſich auch anboten,
war ſie viel zu traͤge und verwoͤhnt
149
und befand fich zu wohl bey ihrer
Lebensart. Auch traute fie allen
Schmeicheleien nicht und blieb feſt
uͤberzeugt, ſie wuͤrde es mit aller
Noth und Arbeit in der Kunſt zu
nichts Ordentlichem bringen. Lobte
man ihren Geſchmack und ihr Zim⸗
mer, in welches fie nur ſelten aus—
erwaͤhlte Lieblinge fuͤhrte, ſo ruͤhmte
ſie dagegen auf eine komiſche Weiſe
zuerſt das gute alte Schickſal, die
ſchlaue Liſette und dann die Eng⸗
laͤnder und Hollaͤnder als die beſten
Nazionen unter allen, die ſie kenne;
weil die volle Caſſe einiger Neulinge
von dieſer Sorte zuerſt einen guten
Grund zu ihrer reichlichen Einrich—
tung gelegt hatte. Überhaupt freute
ſie ſich ſehr damit, wenn ſie jeman⸗
150
rl Ok ehe,
den, der dumm war, uͤbervortheilt ;
hatte: aber fie that es auf eine drol⸗
lige, faſt kindiſche Art, mit Witz
und mehr aus Übermuth als aus
Rohheit. Ihre ganze Klugheit wandte
ſie darauf ji ſich der Zudringlichkeit
und Unart der Maͤnner zu erweh⸗
ren, und es gelang ihr ſo ſehr, daß
die rohen, wuͤſten Menſchen mit
einer innigen Achtung von ihr ſpra⸗
chen, die dem, welcher ſie nicht
kannte und nur von ihrem Gewerbe
wußte, ſehr komiſch duͤnkte. Das
war es auch, was den neugierigen
Julius zuerſt reizte, eine ſo ſonder⸗
bare Bekanntſchaft zu ſuchen und er
fand bald noch mehr Urſach zu er⸗
ſtaunen. Bey den gewoͤhnlichen
Maͤnnern litt und that ſie, was ſie
| 151
ſchuldig zu ſeyn glaubte; genau, mit
Geſchicklichkeit und mit Kunſtſinn,
aber ganz kalt. Gefiel ihr ein Mann,
fuͤhrte ſie ihn gar in ihr heiliges Ca⸗
binet; ſo ſchien ſie eine ganz neue
Perſon zu werden. Sie gerieth dann
in eine ſchoͤne bacchantiſche Wuth;
wild, ausſchweifend und unerſaͤttlich
vergaß ſie beynah der Kunſt und
verfiel in eine hinreißende Anbetung
der Maͤnnlichkeit. Darum liebte ſie
Julius, und auch weil fie ihm fo
ganz ergeben ſchien, ungeachtet ſie
davon nicht viele Worte machte. Sie
merkte bald, ob jemand Verſtand
habe, und wo ſie den zu finden
glaubte, ward ſie offen und herzlich,
und ließ ſich dann gern von ihrem
Freunde erzaͤhlen, was er von der
| 152.
Welt wußte. Mancher hatte ſie N
lehrt, keiner aber hatte ihr innerſtes
Weſen jo verſtanden, jo fein ge
ſchont und ihren eigentlichen Werth
ſo geachtet wie Julius. Darum hing
ſie auch mehr an ihm als ſich ſagen
laͤßt. Sie erinnerte ſich vielleicht
zum erſtenmal mit Ruͤhrung an ihre
erſte Jugend und Unſchuld und gefiel
ſich nicht in der Umgebung, mit der
ſie ſonſt ganz zufrieden war. Julius
fuͤhlte das und freute ſich damit,
aber er konnte nie über die Gering⸗
ſchaͤtzuüng Herr werden, die ihm ihr
Stand und ihr Verderben einfloͤßte,
und ſein unausloͤſchliches Mistrauen
ſchien ihm hier gerecht zu ſeyn. Wie
entruͤſtet war er daher, als ſie ihm
einſt unerwarteter Weiſe die Ehre
153
der Vaterſchaft aft ankuͤndigte. Und er
wußte es doch „daß ſie trotz ihres
Verſprechens noch vor kurzem Be—
ſuche von einem andern angenom⸗
men hatte. Das Verſprechen konnte
ſie ihm nicht abſchlagen. Sie ſelbſt
hätte es wahrſcheinlich gern gehal—
ten, aber ſie brauchte mehr als er
geben konnte; ſie wußte nur eine
Art, Geld zu erwerben, und aus
einer Delikateſſe, die ſie einzig fuͤr
ihn hatte, nahm ſie nur das we—
nigſte von dem, was er geben wollte.
Alles das bedachte der aufgebrachte
Juͤngling nicht, er hielt ſich für be⸗
trogen, er ſagte es ihr mit harten
Worten und verließ ſie in dem lei⸗
denſchaftlichſten Zuſtande, wie er
glaubte, auf immer. Nicht lange
154
nachher ſuchte ihn der Knabe mit
Thraͤnen und Klagen und ließ nicht
ab, bis er mit ihm ging. Er fand
ſie faſt entkleidet in dem ſchon dun⸗
keln Cabinet, er ſank in die gelieb⸗
ten Arme, mit denen ſie ihn ſo hef⸗
tig an ſich riß wie ſonſt, aber ſie
ſanken ſogleich an ihm nieder. Er
hoͤrte einen tiefen ſtoͤhnenden Seuf⸗
zer, es war der letzte; und da er
ſich anſah, war er mit Blut bedeckt.
Voll Entſetzen ſprang er auf und
wollte fliehen. Er verweilte nur,
um eine große Locke zu ergreifen,
die neben dem gefaͤrbten Meſſer auf
dem Boden lag. Sie hatte dieſelbe
in einem Anfalle von begeiſterter
Verzweiflung kurz zuvor, ehe ſie ſich
die vielen Wunden gab, von denen
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155
die meiſten toͤdtlich waren, abge
ſchnitten. Wahrſcheinlich mit dem
Gedanken, ſich dadurch dem Tode
und dem Verderben als Opfer zu
weihen. Denn nach der Ausſage
des Knaben ſprach ſie dabey mit
lauter Stimme die Worte: »Liſette
»ſoll zu Grunde gehn, zu Grunde
»jetzt gleich: ſo will es das Schick—
»ſal, das eiſerne.«
Der Eindruck, den dieſe über:
raſchende Tragoͤdie auf den reizbaren
Juͤngling machte, war unauslöfch-
lich, und brannte durch ſeine eigne
Kraft immer tiefer. Die erſte Folge
von Liſettens Ruin war, daß er ihr
Andenken mit ſchwaͤrmeriſcher Ach—
tung vergoͤtterte. Er verglich ihre
hohe Energie mit den nichtswuͤrdigen
156
Intriguen der Dame, die ihn ver-
ſtrickt hatte „und fein Gefühl mußte
laut entſcheiden, daß jene ſittlicher
und weiblicher ſey: denn dieſe Co⸗
quette gab nie eine kleine oder große
Gunſt ohne Nebenabſicht; und doch
ward ſie von aller Welt geachtet
und bewundert, wie ſo viele andre,
die ihr gleichen. Daruͤber wider⸗
ſetzte ſich ſein Verſtand mit Heftig⸗
keit allen falſchen und allen wahren
Meinungen, die man uͤber die weib⸗
liche Tugend hat. Es ward Grund⸗
ſatz bey ihm, die geſellſchaftlichen
Vorurtheile, welche er bisher nur
vernachlaͤſſigte, nun ausdruͤcklich zu
verachten. Er gedachte an die zarte
Louiſe, die beynah ein Raub ſeiner
Verfuͤhrung geworden waͤre und er
. EN >.
157
erſchrack. Denn auch Liſette war
von guter Familie, fruͤh gefallen,
entführt und in der Fremde verlaſ—
ſen, zu ſtolz geweſen umzukehren,
und durch die erſte Erfahrung ſo
belehrt wie andre nicht durch die
letzte. Mit ſchmerzlichem Vergnuͤgen
ſammelte er manchen intereſſanten
Zug von ihrer fruͤhen Jugend. Sie
war damals mehr ſchwermuͤthig als
leichtſinnig, aber in der Tiefe ganz
Flamme und ſchon als kleines Maͤd⸗
chen traf man ſie bey Gemaͤlden
von nackten Geſtalten oder bey an⸗
dern Gelegenheiten in ſonderbaren
Außerungen der heftigſten Sinn⸗
lichkeit.
Dieſe Ausnahme von dem, was
Julius fuͤr gewoͤhnlich hielt beym
158
weiblichen Geſchlecht, war zu einzig
und die Umgebung, in der er ſie
fand, zu unrein, als daß er da⸗
durch zu einer wahren Anficht hätte
gelangen koͤnnen. Vielmehr trieb
ihn ſein Gefuͤhl, ſich faſt ganz von
den Frauen und von den Geſell⸗
zuruͤck zu ziehen. Er fuͤrchtete ſeine
Leidenſchaftlichkeit und warf ſeinen
ganzen Sinn auf die Freundſchaft
mit Juͤnglingen, die wie er der Be⸗
geiſterung faͤhig waren. Dieſen er⸗
gab er ſein Herz, nur ſie waren
fuͤr ihn wahrhaft wirklich, die uͤbrige
Menge gemeiner Schattenweſen freute
er ſich zu verachten. Mit Leiden⸗
ſchaft und mit Spitzfindigkeit ſtritt
er innerlich und gruͤbelte uͤber ſeine
159
Freunde, über ihre verſchiedenen
Vorzuͤge und Verhaͤltniſſe zu ihm.
Er erhitzte ſich in ſeinen eigenen
Gedanken und Geſpraͤchen und war
berauſcht von Stolz und von Maͤnn⸗
lichkeit. Auch gluͤhten ſie alle von
edler Liebe, unentwickelt ſchlummerte
hier manche große Kraft, und ſie
ſagten nicht ſelten in rohen aber
treffenden Worten erhabene Dinge
uͤber die Wunder der Kunſt, uͤber
den Werth des Lebens und uͤber
das Weſen der Tugend und Selbſt⸗
ſtaͤndigkeit. Vorzuͤglich aber uͤber
die Goͤttlichkeit der männlichen Freund—
ſchaft, die Julius zum eigentlichen
Geſchaͤft ſeines Lebens zu machen
geſonnen war. Er hatte viele Ver⸗
bindungen, und war unerfättlich
160
immer neue zu knuͤpfen. Jeden
Mann, der ihm intereſſant erſchien,
ſuchte er, und ruhte nicht, bis er
ihn gewonnen und die Zuruͤckhal⸗
tung des andern durch ſeine jugend⸗
liche Zudringlichkeit und Zuverſicht
beſiegt hatte. Es laͤßt ſich denken,
daß er, der ſich eigentlich alles er⸗
laubt hielt und ſich ſelbſt uͤber das
Laͤcherliche wegſetzen konnte, eine
andre Schicklichkeit im Sinne und
vor Augen hatte als die, welche all⸗
gemein gilt.
des einen Freundes fand er mehr
als weibliche Schonung und Zartheit
bey erhabenem Verſtande und feſt
gebildetem Charakter. Ein zweyter
brannte mit ihm in edlem Unwillen
über
161
über das ſchlechte Zeitalter und wollte
etwas Großes wirken. Der liebens⸗
wuͤrdige Geiſt des dritten war noch
ein Chaos von Andeutungen: aber
er hatte zarten Sinn fuͤr alles und
ahndete die Welt. Den einen ver⸗
ehrte er als ſeinen Meiſter in der
Kunſt würdig zu leben. Den an:
dern dachte er als ſeinen Juͤnger
und wollte ſich nur vor der Hand
zur Theilnahme an ſeinen Ausſchwei⸗
fungen herablaſſen, um ihn ganz
zu kennen und zu gewinnen, und
dann ſeine große Anlage zu retten,
die ſo nah am Abgrunde wandelte
wie ſeine eigne.
Es waren große Gegenſtaͤnde,
nach denen ſie mit Ernſt ſtrebten.
Indeſſen blieb es bey hohen Worten
Lucinde I. L
162
und vortrefflichen Wuͤnſchen. Julius
kam nicht weiter und ward nicht
klarer, er handelte nicht und er bil⸗
dete nichts. Ja er vernachlaͤßigte
ſeine Kunſt faſt nie mehr, als da
er ſich und feine Freunde mit Pros
jekten uͤberſtroͤmte von allen Wer⸗
ken, die er vollbringen wollte, und
die ihm im Augenblick der erſten
Begeiſterung ſchon fertig ſchienen.
Die wenigen Anwandlungen von
Nuͤchternheit, die ihm noch uͤbrig
blieben, erſtickte er in Muſik, die
fuͤr ihn ein gefaͤhrlicher, bodenloſer
Abgrund von Sehnſucht und Weh⸗
muth war, in den er ſich gern und
willig verſinken ſah.
Di.ieſe innere Gaͤhrung haͤtte heil⸗
ſam ſeyn koͤnnen, und aus der Ver⸗
163
zweiflung wäre endlich Ruhe und
Feſtigkeit hervorgegangen, und er
waͤre klar geworden uͤber ſich ſelbſt.
Aber die Wuth der Unbefriedigung
zerſtuͤckte ſeine Erinnerung, er hatte
nie weniger eine Anſicht vom Gan⸗
zen ſeines Ich. Er lebte nur in der
Gegenwart, an der er mit durſtigen
Lippen hing, und vertiefte ſich ohne
Ende in jeden unendlich kleinen und
doch unergruͤndlichen Theil der un⸗
geheuren Zeit, als muͤſſe es nun in
dieſem endlich zu finden ſeyn, was
er ſchon ſo lange ſuche. Dieſe Wuth
der Unbefriedigung mußte ihn bald
mit ſeinen Freunden ſelbſt verſtim⸗
men und entzweyen, von denen die
meiſten bey den herrlichſten Anlagen
eben ſo unthaͤtig und mit ſich uneins
L 2
164
waren wie er. Dieſer ſchien ihn
nicht zu verſtehn, jener bewunderte
nur ſeinen Geiſt, aͤußerte aber Miß⸗
trauen gegen ſein Herz und that
ihm wirklich Unrecht. Da hielt er
ſeine innerſte Ehre gekraͤnkt und
fuͤhlte ſich von geheimem Haß zerriſ⸗
ſen. Er uͤberließ ſich dieſem Gefuͤhl
ohne Scheu, denn er glaubte, nur
wen man achten muͤſſe, duͤrfe man
haſſen, und nur Freunde koͤnnten
einer dem andern das zarteſte Ge⸗
fuͤhl ſo tief verletzen. Der eine
Juͤngling war durch eigne Schuld
zu Grunde gegangen; der andre
fing gar an ſelbſt gewöhnlich zu
werden. Mit einem dritten war
ſein Verhaͤltniß serien und faft
gemein geworden. Es war ganz
165
geiftig geweſen, und fo hätte es auch
bleiben Sollen. Aber eben weil es
ſo zart war, mußte mit der feinſten
Bluͤthe alles verloren gehn, als die
Gelegenheit es gab, daß einer dem
andern Dienſte leiſtete. Da geriethen
ſie in Wettſtreite von Großmuth und
Dankbarkeit und fingen endlich an,
in der geheimften Tiefe, der Seele
irrdiſche Foderungen an ſich zu ma⸗
chen und zu vergleichen.
Bald hatte der Zufall ohne Scho⸗
nung aufgeld t, was nur durch
Willkühr I denſchaftlich verbunden
war. Immer mehr und mehr ge
rieth Julius in einen Zuſtand, der
von der Verruͤckung nur dadurch
verſchieden war, daß es einigermaßen
auf ihn ankam, wann und wie weit
166 | rg 4 lack ct
er ſich ſeiner 1 e wollte.
Auch war ſein aͤußeres Betragen
jeder buͤrgerlichen und geſellſchaftli⸗
chen Ordnung gemaͤß, und grade
jetzt fingen die Menſchen an, ihn
vernuͤnftig zu nennen, da eine Ver⸗
wirrung aller Schmerzen ſein Innres
wild zerriß und die Krankheit des
Geiſtes immer tiefer und geheimer
an dem Herzen nagte. Es war
mehr eine Raſerey des Gefuͤhls als
— e
des Verſtandes, und das Übel war
nur um ſo gefaͤhrlicher, weil er
aͤußerlich froh und luſtig ſchien. So
war ſeine gewoͤhnliche Stimmung,
und man fand ihn ſogar angenehm.
Nur wenn er mehr Wein genoſſen
hatte als gewoͤhnlich, ward er uͤber⸗
aus traurig und zu Thraͤnen und
167
Klagen geneigt. Aber jelbit dann
ſprudelte er, wenn andre zugegen
waren, von bitterm Witz und allge⸗
meinem Spott, oder er trieb ſein
Spiel mit ſonderbaren und dummen
Menſchen, deren Umgang er nun
uͤber alles liebte, und die er in die
beſte Laune zu ſetzen wußte, ſo daß
ſie ſich von Herzen mittheilten und
ganz zeigten, wie ſie waren. Das Ge⸗
meine reizte und unterhielt ihn; nicht
aus liebenswuͤrdiger Herablaſſung,
ſondern weil es nach ſeiner Anſicht
naͤrriſch und toll war.
An ſich ſelbſt dachte er nicht,
nur dann und wann uͤberfiel ihn
ein klares Gefuͤhl, er werde ploͤtzlich
zu Grunde gehn. Die Reue unter⸗
druͤckte er durch Stolz, und die Ge⸗
kr
168
danken und Bilder des Selbſtmordes
waren ihm ſchon in ſeiner fruͤhſten
jugendlichen Schwermuth ſo gelaͤufig
geweſen, daß ſie den Reiz der Neu⸗
heit fuͤr ihn verloren hatten. Einen
ſolchen Entſchluß auszufuͤhren, waͤre
er ſehr faͤhig geweſen, wenn er nur
uͤberhaupt zu einem Entſchluß hätte
kommen koͤnnen. Es ſchien ihm
kaum der Muͤhe werth, weil er doch
nicht hoffen wollte, der Langeweile
des Daſeyns und dem Eckel uͤber
das Schickſal auf dieſem Wege zu
entfliehn. Er verachtete die Welt
und alles, und war ſtolz darauf.
Auch dieſe Krankheit wie alle vo-
rigen heilte und vernichtete der erſte
Anblick einer Frau, die einzig war,
und die ſeinen Geiſt zum erſtenmal
Dr BEZ uch au >... Be?
169
ganz und in der Mitte traf. Seine
bisherigen Leidenſchaften ſpielten nur
auf der Oberflaͤche, oder es waren
vorübergehende Zuſtaͤnde ohne Zus
ſammenhang. Jetzt ergriff ihn ein
neues unbekanntes Gefuͤhl, daß die⸗
ſer Gegenſtand allein der rechte, und
dieſer Eindruck ewig ſey. Der erſte
Blick ſchon entſchied, beym zweyten
wußte er's, und ſagte ſich's, daß
es nun gekommen, und wirklich da
ſey, was er ſo lange dunkel erwar⸗
tet hatte. Er erſtaunte, und er:
ſchrack, denn wie er dachte, daß es
ſein hoͤchſtes Gut ſeyn wuͤrde, von
ihr geliebt zu werden und ſie ewig
zu beſitzen, ſo fuͤhlte er zugleich, daß
dieſer hoͤchſte und einzige Wunſch
ewig unerreichbar ſey. Sie hatte
170
gewaͤhlt und hatte ſich gegeben; ihr
Freund war auch der ſeinige, und
lebte ihrer Liebe wuͤrdig. Julius
war der Vertraute, er wußte daher
alles genau, was ihn unglüdlich
machte, und urtheilte mit Strenge
uͤber ſeinen eignen Unwerth. Gegen
dieſen wandte ſich die ganze Kraft
ſeiner Leidenſchaft. Er entſagte der
Hoffnung und dem Gluͤck, aber er
beſchloß, es zu verdienen, und Herr
uͤber ſich ſelbſt zu werden. Nichts
verabſcheute er ſo ſehr, als den Ge⸗
danken, das Geringſte von dem, was
ihn erfuͤllte, auch nur durch ein un⸗
deutliches Wort, durch einen verſtohl⸗
nen Seufzer zu verrathen. Gewiß
waͤre auch jede Außerung widerſinnig
geweſen, und da er ſo heftig, ſie ſo
171
fein, und das Verhaͤltniß fo zart
war, hätte ein einziger Wink, von
denen, die unwillkuͤhrlich ſcheinen
und doch bemerkt ſeyn wollen, im—
mer weiter fuͤhren und alles ver—
wirren muͤſſen. Darum draͤngte er
alle Liebe in ſein Innerſtes zuruͤck,
und ließ da die Leidenſchaft wuͤthen,
brennen und zehren; aber ſein Auſ⸗
ſeres war durchaus verwandelt, und
ſo gut gelang ihm der Schein der
kindlichſten Unbefangenheit und Un:
erfahrenheit und einer gewißen bruͤ—
derlichen Haͤrte, die er annahm, da⸗
mit er nicht aus dem Schmeichel—
haften ins Zaͤrtliche fallen moͤchte,
daß ſie nie den leiſeſten Argwohn
ſchoͤpfte. Sie war heiter und leicht
in ihrem Gluͤck, ſie ahndete nichts,
172
ſcheute alſo nichts, ſondern ließ ih⸗
rem Witz und ihrer Laune freyes
Spiel, wenn ſie ihn unliebenswuͤr⸗
dig fand. uͤberhaupt lag in ihrem
Weſen jede Hoheit und jede Zierlich⸗
keit, die der weiblichen Natur eigen
ſeyn kann, jede Gottaͤhnlichkeit, und
jede Unart, aber alles war fein, ge⸗
bildet, und weiblich. Frey und
kraͤftig entwickelte und aͤußerte ſich
jede einzelne Eigenheit, als ſey ſie
nur fuͤr ſich allein da, und dennoch
war die reiche, kuͤhne Miſchung ſo
ungleicher Dinge im Ganzen nicht
verworren, denn ein Geiſt beſeelte
es, ein lebendiger Hauch von Har⸗
monie und Liebe. Sie konnte in
derſelben Stunde irgend eine komiſche
Albernheit mit dem Muthwillen und
173
der Feinheit einer gebildeten Schau:
ſpielerin nachahmen, und ein erha-⸗
benes Gedicht vorleſen mit der hin⸗
reißenden Wuͤrde eines kunſtloſen
Geſanges. Bald wollte ſie in Ge⸗
ſellſchaft glaͤnzen und taͤndeln, bald
war ſie ganz Begeiſterung, und
bald half ſie mit Rath und That,
ernſt, beſcheiden und freundlich wie
eine zaͤrtliche Mutter. Eine geringe
Begebenheit ward durch ihre Art ſie
zu erzählen fo reizend wie ein ſchoͤ⸗
nes Maͤhrchen. Alles umgab ſie
mit Gefuͤhl und mit Witz, ſie hatte
Sinn fuͤr alles, und alles kam ver⸗
edelt aus ihrer bildenden Hand und
von ihren ſuͤß redenden Lippen.
Nichts Gutes und Großes war zu
heilig oder zu allgemein fuͤr ihre
174
leidenſchaftlichſte Theilnahme. Sie
vernahm jede Andeutung, und ſie
erwiederte auch die Frage, welche
nicht geſagt war. Es war nicht
moͤglich, Reden mit ihr zu halten;
es wurden von ſelbſt Geſpraͤche, und
waͤhrend dem ſteigenden Intereſſe
ſpielte auf ihrem feinen Geſichte eine
immer neue Muſik von geiſtvollen
Blicken und lieblichen Mienen. Die⸗
ſelben glaubte man zu ſehen, wie
ſie ſich bey dieſer oder bey jener
Stelle veraͤnderten, wenn man ihre
Briefe las, ſo durchſichtig und ſee⸗
lenvoll ſchrieb ſie, was ſie als Ge⸗
ſpraͤch gedacht hatte. Wer ſie nur
von dieſer Seite kannte, haͤtte den⸗
ken koͤnnen, ſie ſey nur liebenswuͤr⸗
dig, ſie wuͤrde als Schauſpielerin
175
bezaubern muͤſſen, und ihren geflü-
gelten Worten fehle nur Maaß und
Reim, um zarte Poeſie zu werden.
Und doch zeigte eben dieſe Frau bey
jeder großen Gelegenheit Muth und
Kraft zum Erſtaunen „und das war
auch der hohe Geſichtspunkt, aus
dem ſie den Werth der Menſchen
beurtheilte.
Dieſe Groͤße der Seele war die
Seite, von der Julius im Anfange
ſeiner Leidenſchaft ihr Weſen am
meiſten ergriff, weil dieſe zu dem
Ernſt derſelben am beſten ſtimmte.
Sein ganzes Weſen war gleichſam
von der Oberflaͤche zuruͤckgetreten
nach dem Innern; er verſank in
eine allgemeine Verſchloſſenheit und
floh den Umgang der Menſchen.
112
IE
39
een feſter Mittelpunkt und Boden
176
Rauhe Felſen waren feine liebſte
Geſellſchaft, am Geſtade des einſa⸗
men Meeres hing er ſeinen Gedan⸗
ken nach, und ging zu Rathe mit
ſich ſelbſt, und wenn das Sauſen
des Windes in den hohen Tannen
rauſchte, ſo waͤhnte er, die maͤchti⸗
gen Wogen tief unter ihm wollten
ſich aus Theilnahme und Mitleiden
ihm naͤhern, und ſchwermuͤthig blickte
er den fernen Schiffen nach und
der ſinkenden Sonne. Dieſer Ort
war ſein Liebling, er ward ihm
durch die Erinnerung zu einer hei⸗
ligen Heimath aller Schmerzen und
Entſchluͤſſe.
Die Vergoͤtterung ſeiner erhabe⸗
nen Freundin wurde fuͤr ſeinen Geiſt
einer
177
einer neuen Welt. Hier ſchwanden
alle Zweifel, in dieſem wirklichen
Gute fuͤhlte er den Werth des Le⸗
bens und ahndete die Allmacht des
Willens. Er ſtand in Wahrheit auf
friſchem Gruͤn einer kraͤftigen muͤt⸗
terlichen Erde, und ein neuer Him⸗
mel woͤlbte ſich unermeßlich uͤber
ihm im blauen Ather. Er erkannte
in ſich den hohen Beruf zur goͤtt⸗
lichen Kunſt, er ſchalt ſeine Traͤg⸗
heit, daß er noch ſo weit zuruͤck ſey
in der Bildung und zu weichlich ge=
weſen war zu jeder gewaltigen An—
ſtrengung. Er ließ ſich nicht in
muͤſſige Verzweiflung ſinken, ſondern
er folgte der weckenden Stimme je⸗
ner heiligen Pflicht: Alle Mittel, die
ihm die Verſchwendung noch gelaſſen
Lucinde J. DV
—
178
hatte, ſpannte er nun an. Er zer⸗
riß alle Bande von Ehedem, und
machte ſich mit einem Streich ganz
unabhaͤngig. Seine Kraft und ſeine
Jugend weihte er der erhabenen
kuͤnſtleriſchen Arbeit und Begeiſterung.
Er vergaß ſein Zeitalter und bildete
ſich nach den Helden der Vorwelt,
deren Ruinen er mit Anbetung liebte.
Auch fuͤr ihn ſelbſt gab es keine Ge⸗
.
genwart, denn er lebte nur in der
Zukunft und in der Hoffnung, der⸗
einſt ein ewiges Werk zu vollenden
zum Denkmal ſeiner Tugend und
ſeiner Wuͤrde. |
So litt und lebte er viele Jahre,
und wer ihn ſah, hielt ihn fuͤr aͤlter
als er war. Was er bildete, war
groß gedacht und in altem Styl,
er
2 .
— — * — er
UT a TE DEE,
u * ut u 8 2 —
Sr
F Bi
2
aa 179
aber der Ernft war abſchreckend, die
Formen fielen ins ungeheure 5 das
Antike ward ihm zu einer harten
Manier, und ſeine Gemaͤlde blieben
bey aller Gruͤndlichkeit und Einſicht
ſteif und ſteinern. Es war vieles
zu loben, nur die Anmuth fehlte;
und darin glich er ſeinen Werken.
Sein Charakter war rein gebrannt
im Leiden göttlicher Liebe und glaͤnzte
in heller Kraft, aber er war ſproͤde
und ſtarr wie aͤchter Stahl. Er war
aus Kaͤlte ruhig, und nur dann ge⸗
rieth er in Aufruhr, wenn ihn eine
hohe Wildniß der einſamen Natur
mehr als gewoͤhnlich reizte, wenn er
feiner entfernten Freundin treuen Be—
richt gab von dem Kampf ſeiner
Bildung und dem Ziel aller Arbeit,
M
180
oder wenn ihn die Begeiſterung für
die Kunſt in Gegenwart andrer uͤber⸗
raſchte, daß nach langem Schweigen
einige geflügelte Worte aus feinem
innerſten Gemuͤth brachen. Doch
das geſchah nur ſelten, denn er nahm
ſo wenig Antheil an den Menſchen
als an ſich ſelbſt. Über ihr Gluͤck
und ihr Beginnen konnte er nur
freundlich laͤcheln und er glaubte es
ihnen aufs Wort, wenn er bemerkte,
wie ſie ihn unliebend und unliebens⸗
wuͤrdig fanden.
Doch ſchien ihn eine edle 2
etwas zu bemerken und vorzuziehn.
Ihr feiner Geiſt und ihr zartes Ge⸗
fuͤhl zogen ihn lebhaft an, da ſie noch
durch den Reiz einer liebenswuͤrdigen
und dabey ſonderbaren Geſtalt und
PVC
.
e
181
durch ein Auge voll ſtiller Schwer⸗
muth erhoͤht wurden. Aber ſo oft
er herzlicher werden wollte, ergriff
ihn das alte e Mißtrauen und die ge⸗
wohnte Kalte. Er ſah ſie haͤufig
und konnte ſich nie aͤußern, bis auch
dieſer Strom von Gefuͤhl zuruͤckfloß
in das innere Meer allgemeiner Be⸗
geiſterung. Selbſt die Gebieterin des
Herzens trat in ein heiliges Dunkel
zuruͤck, und wuͤrde ihm fern geblie⸗
ben ſeyn, wenn er ſie wiedergeſehn
haͤtte.
Das einzige, was ihn milder und
waͤrmer ſtimmte, war der Umgang
mit einer andern Frau, die er als
Schweſter ehrte und liebte, und die
er auch ganz ſo betrachtete. Er ſtand
ſchon laͤnger in buͤrgerlichen Ver⸗
182
haͤltniſſen mit ihr, fie war kraͤnklich
und etwas aͤlter wie er; dabey aber
von hellem reifem Verſtand, von
gradem geſundem Sinn, und ſelbſt
im Auge der Fremden bis zur Lie⸗
benswuͤrdigkeit rechtlich. Alles was
ſie unternahm, athmete den Geiſt
freundlicher Ordnung, und wie von
ſelbſt entwickelte ſich die gegenwaͤr⸗
tige Thaͤtigkeit allmaͤhlig aus der
vorigen und bezog ſich ſtill auf die
kuͤnftige. In dieſer Anſchauung be⸗
griff es Julius klar, daß es keine
andre Tugend gebe als Conſequenz.
Aber es war nicht die kalte ſteife
uͤbereinſtimmung berechneter Grund⸗
ſaͤtze oder Vorurtheile, ſondern die
beharrliche Treue eines muͤtterlichen
Herzens, das den Kreis ſeiner Wirk⸗
183
ſamkeit und feiner Liebe mit befcheid-
ner Kraft erweitert und in ſich ſelbſt
vollendet, und die rohen Dinge der
umgebenden Welt zu einem freund—
lichen Eigenthum und Werkzeug des
geſelligen Lebens bildet. Dabey war
ihr jede Beſchraͤnktheit haͤuslicher
Frauen fremd, und mit tiefer Scho-
nung und gefuͤhlter Milde ſprach
ſie uͤber die herrſchenden Meinungen
der Menſchen, und über die Ausnah-
men und Ausſchweifungen derer, die
gegen den Strom leben: denn ihr
Verſtand war ſo unbeſtechlich als
ihr Gefühl rein und unverfaͤlſcht.
Sie ſprach uͤberhaupt gern, vorzuͤg⸗
lich uͤber ſittliche Gegenſtaͤnde, wo
ſie den Streit oft ins Allgemeine
ſpielte und auch wohl an Spitzfindig⸗
—— end Dr
184
keiten Gefallen hatte, wenn fie et⸗
was zu enthalten ſchienen und ſinn⸗
reich klangen. Sie war nicht ſpar⸗
ſam mit Worten und ihr Geſpraͤch
ward durch keine aͤngſtliche Ordnung
gelenkt. Es war eine reizende Ver⸗
wirrung von einzelnen Einfaͤllen und
allgemeiner Theilnahme, von fort⸗
geſetzter Aufmerkſamkeit und ploͤtzli⸗
cher Zerſtreuung.
Die Natur belohnte endlich die
muͤtterliche Tugend der vortrefflichen
Frau und es keimte, da ſie es kaum
hoffte, ein neues Leben unter ihrem
treuen Herzen. Das erfuͤllte den
Juͤngling, der ſo ſehr an ihr hing
und an ihrem haͤuslichen Gluͤcke den
waͤrmſten Antheil nahm, mit leb⸗
hafter Freude: aber es regte vieles
u
185
in ihm an, was lange geſchwiegen
hatte.
Da nun einige ſeiner kuͤnſtleri⸗
ſchen Verſuche auch in ſeiner Bruſt
ein neues Zutrauen weckten, und
ihn der erſte Beyfall großer Meiſter
aufmunterte; da ihn die Kunſt an
neue ſehenswuͤrdige Orte und unter
fremde froͤhliche Menſchen fuͤhrte:
ſo erweichte ſich ſein Gefuͤhl
und floß maͤchtig, wie ein großer
Strom, wenn das Eis ſchmilzt und
bricht, und die Wogen mit neuer
Kraft ſich durch die alte Bahn reißen.
Er war verwundert, ſich wieder
ausgelaſſen und fröhlich in der Ge⸗
ſellſchaft der Menſchen zu fuͤhlen.
Seine Denkart war maͤnnlich und
rauh, aber ſein Herz in der Ein⸗
P
186
ſamkeit wieder kindlich und ſchuͤch⸗
tern geworden. Er ſehnte ſich nach
einer Heimath und dachte an eine
ſchoͤne Ehe, die mit den Foderungen
der Kunſt nicht ſtreiten ſollte. War
er dann unter der Bluͤthe junger
Maͤdchen, ſo fand er leicht eine oder
mehrere von ihnen liebenswuͤrdig.
Heyrathen, meinte er, wolle er ſie
gleich, wenn er ſie ſchon nicht lie⸗
ben koͤnne. Denn der Begriff und
ſelbſt der Namen der Liebe war ihm
uͤberheilig und blieb ganz in der
Ferne. Bey ſolchen Gelegenheiten
laͤchelte er dann uͤber die ſcheinbare
Beſchraͤnktheit ſeiner augenblicklichen
Wuͤnſche und fuͤhlte wohl, wie un⸗
ermeßlich viel ihm noch fehlen moͤchte,
wenn ſie durch einen Zauberſchlag
u
8
187
ſogleich erfüllt würden. Ein ande⸗
resmal lachte er lauter uͤber ſeine
alte Heftigkeit nach ſo langem Ent⸗
halten, da ihm eine ſchnelle Gele—
genheit einen friſchen Genuß anbot
und fein Gemuͤth durch einen Ro-
man, der in wenigen Minuten ans
gefangen, vollendet und beſchloſſen
war, wenigſtens von einigem Brenn⸗
ſtoff befreyte und erleichterte.
Einem ſehr gebildeten Maͤdchen
gefiel er, weil er ihr ſeelenvolles
Geſpraͤch und ihren ſchoͤnen Geiſt
mit ſichtbarer Innigkeit bewunderte,
und ihr, ohne eine Schmeicheley aus—
zuſprechen, bloß durch die Art ſeines
Umgangs huldigte, ſo gut, daß ſie
ihm nach und nach alles erlaubte,
außer das letzte. Und ſelbſt dieſe
188
Graͤnze fette fie ihm nicht aus Kälte,
noch aus Vorſicht und Grundſatz:
denn ſie war reizbar genug, ſie hatte
eine ſtarke Anlage zum Leichtſinn
und lebte in den freyſten Verhaͤlt⸗
niſſen. Es war weiblicher Stolz und
Scheu vor dem, was ſie fuͤr thieriſch
und roh hielt. So wenig nun ein
ſolches Beginnen ohne Vollendung
nach Julius Sinne war, und ob⸗
gleich er über die kleine Einbildung
des Mädchens laͤcheln mußte, wenn
er bey dieſem verkehrten und ver⸗
kuͤnſtelten Weſen an das Schaffen
| und Wirken der allmächtigen Natur,
an ihre ewigen Geſetze, an die Hoheit
und Groͤße der Mutterwuͤrde, und
an die Schoͤnheit des Mannes dachte,
den in der Fuͤlle der Geſundheit und
1 2 er
Ts EEE HZ —
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189
Liebe die Begeiſterung des Lebens
ergreift, oder des Weibes, das ſich
ihr hingiebt: ſo freute er ſich doch
bey dieſer Gelegenheit zu ſehn, daß |
er den Sinn für zarten und feinen
Genuß noch nicht verloren habe.
Bald aber vergaß er dieſe und
andre aͤhnliche Kleinigkeiten, da er
eine junge Kuͤnſtlerin traf, welche
das Schoͤne gleich ihm leidenſchaft⸗
lich verehrte, die Einſamkeit und
Natur eben ſo zu lieben ſchien. In
ihren Landſchaften ſah und fuͤhlte
man den lebendigen Hauch wahrer
Luft, es war immer ein ganzer
—
—
Blick. Die Umriſſe waren zu un⸗
beſtimmt, und zwar auf eine ſolche
Weiſe, daß ſie den Mangel einer
gruͤndlichen Schule verriethen. Aber
190
alle die Maſſen ſtimmten zuſammen
zu einer Einheit für das Gefühl,
die ſo klar und deutlich war, als
ſey es unmoͤglich, etwas anderes
dabey zu fuͤhlen. Sie trieb die Ma⸗
lerey nicht wie ein Gelderbe oder
eine Kunſt, ſondern bloß aus Luſt
und Liebe, und warf jede Anſicht,
ſowie auf ihren Wanderungen ihr
eine gefiel oder merkwuͤrdig ſchien,
nach Zeit und Laune mit der Feder
oder in Waſſerfarben aufs Papier.
Zum O hatte es ihr an Geduld
und an Fleiß gefehlt, und ſelten
mahlte ſie ein Portrait, nur wann
ſie ein Geſicht ſehr ausgezeichnet und
werth hielt. Dann arbeitete ſie mit
der gewiſſenhafteſten Treue und
Sorgfalt und wußte die Paſtellfarben
— — —— . — — . ꝙ. HE En BE
191
mit einer bezaubernden Weichheit zu
behandeln. So bedingt und gering
der Werth dieſer Verſuche fuͤr die
Kunſt ſeyn mochte, ſo freute ſich
Julius doch nicht wenig uͤber die
ſchoͤne Wildheit in ihren Landfchaf:
ten und uͤber den Geiſt, mit dem ſie
die unergruͤndliche Mennicfaltigkeit
und wunderbare uübereinſtimmung der
menſchlichen Geſichtszuͤge auffaßte.
Und ſo einfach die der Kuͤnſtlerin
ſelbſt waren, ſo waren ſie doch nicht
unbedeutend, und Julius fand in ib⸗
nen einen großen Ausdruck, der ihm |
immer neu. lieb. |
Lueinde hatte einen entſchiednen
| er fühlte
fich betroffen uͤber die neue Ahnlich⸗
keit und er entdeckte immer mehrere.
192
Auch ſie war von denen, die nicht in
der gemeinen Welt leben, ſondern in
deiner eignen ſelbſtgedachten und
ſelbſigebildeten. Nur was ſie von
Herzen liebte und ehrte, war in der
That wirklich fuͤr ſie, alles andre
nichts; und ſie wußte was Werth
hat. Auch ſie hatte mit kuͤhner
Entſchloſſenheit alle Ruͤckſichten und
alle Bande zerriſſen und lebte völlig
frey und unabhaͤngig.
Die wunderbare Gleichheit zog
den Juͤngling bald in ihre Naͤhe,
er bemerkte daß auch ſie dieſe Gleich⸗
heit fuͤhle, und beyde nahmen es
gewahr, daß ſie ſich nicht gleichguͤl⸗
tig waͤren. Es war noch nicht lan⸗
ge, daß ſie ſich ſahen und Julius
wagte nur einzelne abgerißne Worte,
die
193
die bedeutend aber nicht deutlich
waren. Er ſehnte ſich mehr von ih-
ren Schickſalen und ihrem ehemali⸗
gen Leben zu wiſſen, woruͤber ſie
gegen andre ſehr geheimnißvoll war.
Ihm geſtand fie nicht ohne gewalt⸗
ſame Erſchuͤtterung, ſie ſey ſchon
Mutter geweſen von einem ſchoͤnen
ſtarken Knaben, den ihr der Tod
bald wieder entriſſen. Auch er er
innerte ſich an die Vergangenheit,
und ſein Leben ward ihm, indem er
es ihr erzaͤhlte, zum erſtenmal zu
einer gebildeten Geſchichte. Wie
freute ſich Julius, da er mit ihr
uͤber Muſik ſprach, und ſeine inner⸗
ſten und eigenſten Gedanken uͤber
den heiligen Zauber dieſer romanti⸗
ſchen Kunſt aus ihrem Munde hoͤrte!
Sucinde I, N
|
194
Da er ihren Geſang vernahm, der
ſich rein und ſtark gebildet aus tie⸗
fer weicher Seele hob, da er ihn
mit dem ſeinigen begleitete, und ihre
Stimmen bald in Eins floſſen, bald
Fragen und Antworten der zarteſten
Empfindung wechſelten, fuͤr die es
keine Sprache giebt! Er konnte nicht
widerſtehn, er druͤckte einen ſchuͤch⸗
ternen Kuß auf die friſchen Lippen
und die feurigen Augen. Mit ewi⸗
gem Entzuͤcken fuͤhlte er das goͤtt⸗
liche Haupt der hohen Geſtalt auf
ſeine Schulter ſinken, die ſchwarzen
Locken floſſen uͤber den Schnee des
vollen Buſens und des ſchoͤnen Ruͤk⸗
kens, leiſe ſagte er herrliche Frau!
als die fatale Geſellſchaft unerwartet
hereintrat. I;
195
Nun hatte fie ihm nach feinen
Begrifen eigentlich ſchon alles ge:
währt; es war ihm nicht möglich zu
kuͤnſteln an einem Verhaͤltniß, das
er ſich ſo rein und groß dachte, und
doch war ihm jede Zoͤgerung uner⸗
e kun ans Sun dachte
er, begehrt man nicht erſt das, was
man nur als übergang und Mittel
denkt, ſondern man bekennt ſogleich
mit Offenheit und Zuverſicht das
Ziel aller Wuͤnſche. So bat auch
er ſie mit der unſchuldigſten Unbe—
fangenheit um alles, was man eine
Geliebte bitten kann, und ſtellte ihr
in einem Strome von Beredſamkeit
dar, wie ſeine Leidenſchaftlichkeit ihn
zerſtoͤren würde, wenn fie zu weib⸗
lich ſeyn wollte. Sie war nicht
N2
196
wenig uͤberraſcht, aber fie ahndete
wohl, daß er nach der Hingebung
liebender und treuer ſein wuͤrde wie
vorher. Sie konnte keinen Entſchluß
faſſen, und uͤberließ es nur den Um⸗
ſtaͤnden, die es ſo fuͤgten, wie es
gut war. Sie waren nur wenige
| Tage allein, als ſie fich ihm auf
ewig ergab Und ihm die Tiefe ibrer
großen Seele oͤffnete und alle Kraft,
Natur und Heiligkeit, die in ihr
war. Auch fie lebte lange in ge⸗
waltſamer Verſchloſſenheit, und nun
brachen zwiſchen den Umarmungen
in Stroͤmen der Rede das zuruͤckge⸗
draͤngte Zutrauen und die Mitthei⸗
lung mit einemmale hervor aus dem
innerſten Gemuͤth. In einer Nacht
wechſelten ſie mehr als einmal heftig
197
zu weinen und laut zu lachen. Sie
waren ganz hingegeben und eins,
und doch war jeder ganz er ſelbſt,
mehr als ſie es noch je geweſen wa⸗
ren, und jede Außerung war voll
vom tiefſten Gefuͤhl und eigenſten
Weſen. Bald ergriff ſie eine unend⸗
liche Begkiſterung ! bald taͤndelten
und ſcherzten ſie muthwillig und Amor
war hier wirklich, was er ſo ſelten
iſt, ein froͤhliches Kind.
Durch das, was ſeine Freundin
ihm offenbart hatte, ward es dem
Juͤnglinge klar, daß nur ein Weib
recht ungluͤcklich ſeyn kann und recht
glücktic „und daß die Frauen allein,
die mitten im Schooß der menjch-
lichen Geſellſchaft Naturmenſchen ge⸗
blieben ſind, den kindlichen Sinn
. DEN ne
| 198
haben, mit dem man die Gunſt und
Gabe der Goͤtter annehmen muß. Er
lernte das ſchoͤne Gluͤck ehren, was
er gefunden hatte, und wenn er es
mit dem haͤßlichen unaͤchten Gluͤck
verglich, was er ehedem vom Eigen⸗
| finn des Zufalls kuͤnſtlich erzwingen
wollte, ſo erſchien es ihm wie eine
natürliche Roſe am lebendigen Stamm
gegen eine nachgemachte. Aber we⸗
* im Toumel der Naͤchte noch in
der Freude der Tage wollte er es
| Liebe nennen. So ſehr hatte er ſich
beredet, daß dieſe gar nicht fuͤr ihn
ſey und er nicht für fie! Es fand
ſich leicht ein. unterſchied, um dieſe
Selbſttöuſchung zu beſtaͤtigen. Er
hege, jo war ſein Urtheil, eine hef⸗
tige Leidenſchaft für fie und werde
199
ewig ihr Freund ſeyn. Was fie ihm
gab und fuͤr ihn fuͤhlte, nannte er
Zaͤrtlichkeit, Erinnerung, Hingabe
und Hoffnung.
Indeſſen floß die Zeit und die.
ne wuchs. Julius fand in Lu⸗
pig en
es war für die Wuth iner
Liebe und ſeiner Sinne reizender
wie der friſche Reiz der Bruͤſte und
der Spiegel eines Wafrkulichen Lei⸗
bes. Die inrelßende Kraft und
cen ihrer Umſchließung war mehr
miädchenhaftz ſie hatte einen An⸗
c von Begeisterung und Tiefe,
den nur eine Mutter haben kann.
Wenn er ſie im Zauberſchein einer
milden Daͤmmerung hingegoſſen ſah,
er
200
konnte er nicht aufhören, die ſchwel⸗
e Umriſſe ſchmeichelnd zu be⸗
ruͤhren, und durch die zarte Huͤlle
der ebnen Haut die warmen Stroͤme
des feinſten Lebens zu fuͤhlen. Sein
Auge indeſſen berauſchte ſich an der
Farbe, die ſich durch die Wirkung
der Schatten vielfach zu veraͤndern
ſchien und doch immer eine und die⸗
ſelbe blieb. Eine reine Miſchung,
wo nirgends Weiß oder Braun oder
Roth allein abſtach oder ſich roh
zeigte. Das alles war verſchleyert
und verſchmolzen zu einem einzigen
harmoniſchen Glanz von ſanftem Le⸗
ben. — Auch Julius war maͤnnlich
ſchoͤn, aber die Maͤnnlichkeit ſeiner
Geſtalt offenbarte ſich nicht in der
hervorgedraͤngten Kraft der Muſkeln.
201
Vielmehr waren die Umriſſe ſanft,
die Glieder voll und rund, doch war
nirgends ein Überfluß. In hellem
Licht bildete die Oberflaͤche uͤberall
breite Maſſen und der glatte Koͤr⸗
per ſchien dicht und feſt wie Mar⸗
mor, und in den Kaͤmpfen der Liebe
entwickelte ſich mit einemmale der
ganze Reichthum ſeiner kraͤftigen
Bildung.
Sie erfreuten ſich des jugendlichen
Lebens, Monate vergingen wie Tage,
und mehr als zwey Jahre waren vor⸗
über. Nun ward Julius erſt allmaͤh⸗
lig inne, wie groß ſeine Ungeſchicklich⸗
keit ſey und ſein Mangel an Ver⸗
ſtand. Er hatte die Liebe und das
Gluͤck uͤberall geſucht, wo ſie nicht
zu finden waren, und nun da er
\ I —
202
das Höchfte beſaß „hatte er nicht
einmal gewußt oder gewagt, ihm
den rechten Namen zu geben. Er
erkannte nun wohl, daß die Liehe,
die fuͤr die weibliche Seele ein un⸗
theilbares durchaus einfaches Gefuͤhl
iſt, fuͤr den Mann nur ein Wechſel
und eine Miſchung von Leidenſchaft,
von Freundſchaft und von Sinnlich⸗
keit ſeyn kann; und er ſah mit fro⸗
hem Erſtaunen, daß er eben ſo un⸗
endlich geliebt werde wie er liebe.
Überhaupt ſchien es vorherbe⸗
ſtimmt, daß jede Begebenheit ſeines
Lebens ihn durch ein ſonderbares
Ende uͤberraſchen ſolle. Nichts zog
ihn anfangs ſo ſehr an, und hatte
ihn ſo maͤchtig getroffen, als die
Wahrnehmung, daß Lueinde von
203
ähnlichem ja gleichem Sinn und
Geiſt mit ihm ſelbſt war, und nun
mußte er von Tage zu Tage neue
Verſchiedenheiten entdecken. Zwar
gruͤndeten ſich ſelbſt dieſe nur auf
eine tiefere Gleichheit, und je reicher
ihr Weſen ſich entwickelte, je vielſei—
tiger und inniger ward ihre Ver—
bindung. Er hatte es nicht geahn⸗
det, daß ihre Originalitaͤt ſo uner⸗
ſchöß pile war Wie ihre Liebe. Ihr
Ausſehn ſogar ſchien jugendlicher
und bluͤhender in ſeiner Gegenwart;
und ſo bluͤhte auch ihr Geiſt durch
die Beruͤhrung des ſeinigen auf und
Aa
AN
bildete ſich in neue Geſtalten und in
neue Welten. Er glaubte alles in
ihr vereinigt zu beſitzen, was er 4
ſonſt einzeln geliebt hatte: die fchöne
204
Neuheit des Sinnes, die hinreißende
Leidenſchaftlichkeit, die beſcheidne Thaͤ⸗
tigkeit und Bildſamkeit und den gro⸗
ßen Charakter. Jedes neue Verhaͤlt⸗
a ; SSL ..
niß, jede neue Anſicht war fuͤr ſie
ein neues Organ der Mittheilung
und Harmonie. Wie der Sinn fuͤr
einander, wuchs auch der Glauben
an einander, und mit dem Glauben
ſtieg der Muth und die Kraft.
Sie theilten ihre Neigung zur
Kunſt und Julius vollendete einiges.
Seine Gemaͤlde belebten ſich, ein
Strom von beſeelendem Licht ſchien
ſich daruͤber zu ergießen und in fri⸗
ſcher Farbe bluͤhte das wahre Fleiſch.
Badende Maͤdchen, ein Juͤngling,
der mit geheimer Luſt ſein Ebenbild
im Waſſer anſchaut, oder eine hold⸗
205
ſelig laͤchelnde Mutter mit dem ge:
liebten Kinde im Arm waren beynah
die hoͤchſten Gegenſtaͤnde feines Pin:
ſels. Die Formen ſelbſt entſprachen
vielleicht nicht immer den angenomme—
nen Geſetzen einer kuͤnſtlichen Schoͤn—
heit. Was ſie dem Auge empfahl,
war eine gewiſſe ſtille Anmuth, ein
tiefer Ausdruck von ruhigem heitern
Daſeyn und von Genuß dieſes Da—
ſeyns. Es ſchienen beſeelte Pflan⸗
zen in der gottaͤhnlichen Geſtalt des
Menſchen. Eben dieſen liebenswuͤr—
digen Charakter hatten auch ſeine
Umarmungen, in deren Verſchieden⸗
heit er unerſchoͤpflich war. Die
mahlte er am liebſten, weil der Reiz
ſeines Pinſels ſich hier am ſchoͤnſten
zeigen konnte. In ihnen ſchien wirk⸗
206
lich der flüchtige und geheimnißvolle
Augenblick des hoͤchſten Lebens durch
einen ſtillen Zauber uͤberraſcht und
fuͤr die Ewigkeit angehalten. Je
entfernter von bakchantiſcher Wuth,
je beſcheidner und lieblicher die Be:
handlung war, je verfuͤhreriſcher war
der Anblick, bey dem Juͤnglinge und
Frauen ein ſuͤßes Feuer durchſtroͤmte.
Wie ſeine Kunſt ſich vollendete
und ihm von ſelbſt in ihr gelang,
was er zuvor durch kein Streben
und Arbeiten erringen konnte: ſo
ward ihm auch ſein Leben zum Kunſt⸗
nahm, wie es geſchah. Es ward
Licht in ſeinem Innern, er ſah und
überfah alle Maſſen feines Lebens
und den Gliederbau des Ganzen klar
&
1
1
ni
IM
U
207
und richtig, weil er in der Mitte
ſtand. Er fühlte, daß er diefe Ein⸗
heit nie verlieren koͤnne, das Raͤth⸗
ſel ſeines Daſeyns war geloͤſt, er
» K 4
hatte das Wort gefunden, und alles
ſchien ihm dazu vorherbeſtimmt und
von den frühften Zeiten darauf an⸗
gelegt, daß er es in der Liebe fin⸗
den ſollte, zu der er ſich aus ju⸗
gendlichem Unverſtand ganz unge—
ſchickt geglaubt hatte.
Leicht und melodiſch floſſen ihnen
die Jahre vorüber, wie ein ſchoͤner
Geſang, ſie lebten ein gebildetes
Leben, auch ihre Umgebung ward
harmoniſch und ihr einfaches Gluͤck
ſchien mehr ein ſeltnes Talent als
eine ſonderbare Gabe des Zufalls.
Julius hatte auch ſein aͤußeres Be⸗
208 \ *
tragen verändert; er war geſelliger,
und obgleich er viele ganz verwarf,
um ſich mit wenigen deſto inniger
zu verbinden, ſo unterſchied er doch
nicht mehr ſo hart, wurde vielſeiti⸗
ger und lernte das gewöhnliche i ver:
edeln. Er zog allmaͤhlig manche
vorzuͤgliche Menſchen an ſich, Lu⸗
einde verband und erhielt das Ganze
und ſo entſtand eine freye Geſell⸗
ſchaft, oder vielmehr eine große Fa⸗
milie, die ſich dur Bildung
immer neu blieb. Auch vorzuͤg⸗
liche Ausländer erhielten den Zutritt.
Julius ſprach ſeltner mit ihnen, aber
Lueinde wußte fie gut zu unterhal⸗
ten; und zwar ſo daß ihre en
Allgemeinheit und ausgebildete Ge⸗
meinheit zugleich die andern ergoͤtzte,
und
re
RETTET ne
.
209
und weder ein Stillſtand noch ein
Mislaut in der geiſtigen Muſik er⸗
regt ward, deren Schoͤnheit eben in
der harmoniſchen Mannichfaltigkeit
und Abwechſelung beſtand. Neben
dem großen, ernſten Styl in der
Kunſt der Geſelligkeit ſollte auch.
jede nur reizende Manier und Flüch- f
tige Laune ihre Stelle darin finden.
Eine allgemeine Zaͤrtlichkeit ſchien
Julius zu beſeelen, nicht ein nuͤtzen—
M elne
des oder mitleidendes Wohlwollen
an der Menge, ſondern eine an⸗
auende Freude uͤber die Schoͤnheit
n, der ewig bleibt, wäh: |
rend die einzelnen ſchwinden; und
ein reger und offner Sinn fuͤr das
Innerſte in ſich und in andern. Er
war faſt immer gleich geſtimmt zum
Lucinde I. O
210
kindlichſten Scherz und zum heilig⸗
ſten Ernſt. Er liebte nicht mehr nur
die Freundſchaft in ſeinen Freunden,
ſondern ſie ſelbſt. Jede ſchoͤne Ahn⸗
dung und Andeutung, die in der
g Seele liegt, ſtrebte er f im Geſpraͤch
mit aͤhnlich ee ans Licht zu
bringen und zu entwickeln. Da ward
ſein Geiſt in vielfachen Richtungen
und Verhaͤltniſſen ergaͤnzt und berei⸗
chert. Aber die volle Harmonie fand
er auch von dieſer Seite allein in Lu⸗
eindens Seele, wo die Keime alles
Herrlichen und alles Heiligen nur
auf den Strahl ſeines Geiſtes war⸗
teten, u m ſich zur ſchoͤnſten Religion
zu entfa 1 2
eee 2
411
Ich verſetze mich gern in den
Fruͤhling unſrer Liebe; ich ſehe alle
die Veraͤnderungen und Verwand—
lungen, ich lebe ſie noch einmal,
und ich moͤchte wenigſtens einige
von den leiſen Umriſſen des entflie⸗
henden Lebens ergreifen und zu ei⸗
nem bleibenden Bilde geſtalten, jetzt
da es noch voller warmer Sommer
in mir iſt, ehe auch das voruͤber
und es auch dazu zu ſpaͤt wird.
Wir Sterblichen ſind, ſo wie wir hier
ſind, nur die edelſten Gewaͤchſe die⸗
ſer ſchoͤnen Erde. Die Menſchen
geſſen das fo leicht, hoͤchlich lies
Ri n fie die ewigen Geſetze der
lt und wollen die geliebte Ober⸗
fi dee im Mittelpunkte wie⸗
derfinden. Nicht alſo du und ich.
O 2
A
212
Wir find dankbar und zufrieden mit
dem was die Götter wollen und
i was fie in der heiligen Schrift der
fchönen Natur fo klar angedeutet
haben. Das beſcheidne Gemuͤth er⸗
kennt es, daß es auch ſeine wie al⸗
ler Dinge natuͤrliche Beſtimmung
ſey, zu bluͤhen, zu reifen und zu
welken. Aber es weiß, daß eines
doch in ihm unvergaͤnglich ſey. Die⸗
ſes iſt die ewige Sehnſucht nach der
ewigen Jugend, die immer da iſt
und immer entflieht. Noch klaget
die zaͤrtliche Venus um den Tod des
holden Adonis in jeder ſchoͤnen Seele.
Mit ſuͤßem Verlangen erwartet und
ſucht ſie den Juͤngling, mit zarter
Wehmuth erinnert ſie ſich an die
himmliſchen Augen des Geliebten,
r EN Te u re
213
an die fanften Züge und an die
kindlichen Geſpraͤche und Scherze,
und laͤchelt dann eine Thraͤne, hold
erroͤthend, auch ſich nun unter den
Blumen der bunten Erde zu er
blicken.
Andeuten will ich dir wenigſtens
in goͤttlichen Sinnbildern, was ich
nicht zu erzaͤhlen vermag. Denn
wie ich auch die Vergangenheit uͤber⸗
denke, und in mein Ich zu dringen
ſtrebe, um die Erinnerung in klarer
Gegenwart anzuſchauen und dich an— |
ſchauen zu laſſen: es bleibt immer
etwas zuruͤck, was ſich nicht aͤußer⸗
lich darſtellen laͤßt, weil es ganz
innerlich iſt. Der Geiſt des Men⸗
ſchen iſt ſein eigner Proteus, ver⸗
wandelt ſich und will nicht Rede
214
ſtehn vor ſich ſelbſt, wenn er fich
greifen moͤchte. In jener tiefſten
Mitte des Lebens treibt die ſchaffen⸗
de Willkühr ihr Zauberſpiel. Da
ſind die Anfaͤnge und Enden, wohin
alle Faͤden im Gewebe der geiſtigen
Bildung ſich verlieren. Nur was
allmaͤhlig fortruͤckt in der Zeit und
ſich ausbreitet im Raume, nur was
geſchieht iſt Gegenſtand der Ge⸗
ſchichte. Das Geheimniß einer au⸗
genblicklichen Entſtehung oder Ver⸗
wandlung kann man nur errathen
und durch Allegorie ertathen laſſen.
Es war nicht ohne Grund, daß
der fantaſtiſche Knabe, der mir am
meiſten gefiel unter den vier unſterb⸗
lichen Romanen, die ich im Traum
ſah, mit der Maske ſpielt. Auch
EEE (
215
in dem, was reine Darftellung und
Thatſache ſcheint, hat ſich Allegorie
eingeſchlichen und unter die ſchoͤne
Wahrheit bedeutende Luͤgen gemiſcht.
Aber nur als geiſtiger Hauch ſchwebt
ſie beſeelend uͤber die ganze Maſſe,
wie der Witz, der unſichtbar mit feis
nem Werke ſpielt und nur leiſe
laͤchelt.
Es giebt Dichtungen in der al⸗
ſchoͤn, heilig und zart erſcheinen.
ie Poeſie hat ſie ſo fein und reich
gebildet und umgebildet, daß ihre
ſchoͤne Bedeutſamkeit unbeſtimmt ge⸗
blieben iſt und immer neue Deu—
tungen und Bildungen erlaubt. Un⸗
ter dieſen habe ich, um dir einiges
von dem anzudeuten, was ich uͤber
3
216
die Metamorphoſen des liebenden
Gemuͤths ahnde, die gewaͤhlt, von
denen ich glaubte, der Gott der
Harmonie koͤnnte ſie, nachdem ihn
die Liebe vom Himmel auf die Erde
gefuͤhrt und ihn zum Hirten gemacht,
den Muſen erzaͤhlt oder doch von
ihnen angehoͤrt haben. Damals an
den Ufern des Amphryſos hat er
auch, wie ich glaube, die Idylle und
die Elegie erſonnen.
Metamorphoſen.
In ſuͤßer Ruhe ſchlummert der
kindliche Geiſt und der Kuß der lie⸗
benden Goͤttin erregt ihm nur leichte
Traͤume. Die Roſe der Schaam
faͤrbt ſeine Wange, er laͤchelt und
ſcheint die Lippen zu oͤffnen, aber
217
er erwacht nicht, und er weiß nicht,
was in ihm vorgeht. Erſt nachdem
der Reiz des aͤußern Lebens, durch
ein innres Echo vervielfaͤltigt und
verſtaͤrkt, ſein ganzes Weſen uͤberall
durchdrungen hat, ſchlaͤgt er das
Auge auf, frohlockend über die Son:
ne, und erinnert ſich jetzt an die
Zauberwelt, die er im Schimmer des
blaſſen Mondes ſah. Die wunder⸗
bare Stimme, die ihn weckte, iſt
ihm geblieben, aber ſie toͤnt nun ſtatt
der Antwort von den aͤußern Ge:
genſtaͤnden zuruͤck; und wenn er
dem Geheimniß ſeines Daſeyns mit
kindlicher Schuͤchternheit zu entfliehen
ſtrebt, das Unbekannte mit ſchoͤner
Neugier ſuchend, vernimmt er uͤber⸗
all nur den Nachhall ſeiner eignen
Sehnſucht.
218
So ſchaut das Auge in dem Spie⸗
gel des Fluſſes nur den Wiederſchein
des blauen Himmels, die gruͤnen
Ufer, die ſchwankenden Baͤume und
die eigne Geſtalt des in ſich ſelbſt
verſunkenen Betrachters. Wenn ein
Gemuͤth voll unbewußter Liebe da,
wo es Gegenliebe hoffte, ſich ſelbſt
findet, wird es von Erſtaunen ge⸗
troffen. Doch bald laͤßt ſich der
Menſch wieder durch den Zauber
der Anſchauung locken und taͤuſchen,
ſeinen Schatten zu lieben. Dann iſt
der Augenblick der Anmuth gekom⸗
men, die Seele bildet ihre Huͤlle noch
einmal, und athmet den letzten Hauch
der Vollendung durch die Geſtalt.
Der Geiſt verliert ſich in ſeiner kla⸗
ren Tiefe und findet ſich wie Nar⸗
ciſſus als Blume wieder.
Br en
a
F
219
Liebe ift Höher als Anmuth, und
wie bald würde die Bluͤthe der
Schoͤnheit fruchtlos welken ohne die
ergaͤnzende Bildung der Gegenliebe!
Dieſer Augenblick, der Kuß des
Amor und der Pſyche, iſt die Roſe
des Lebens. — Die begeiſterte Dio—
tima hat ihrem Sokrates nur die
Haͤlfte der Liebe offenbart. Die
Liebe iſt nicht bloß das ſtille Ver⸗
langen nach dem Unendlichen; ſie iſt
auch der heilige Genuß einer ſchoͤnen
Gegenwart. Sie iſt nicht bloß eine ö
Miſchung, ein Übergang vom Sterb⸗
lichen zum Unfterblichen, ſondern ſie
iſt eine voͤllige Einheit beyder. ks
giebt eine reine Liebe, ein untheil⸗
bares und einfaches Gefuͤhl ohne die
leiſeſte Stoͤrung von unruhigem |
220
Streben. Jeder giebt daſſelbe was
er nimmt, einer wie der andre, al⸗
les iſt gleich und ganz und in ſich
vollendet wie der ewige Kuß der
goͤttlichen Kinder.
Durch die Magie der PR
fließt das große Chaos ſtreitender
Geſtalten in ein harmoniſches Meer
der Vergeſſenheit. Wenn der Strahl
des Gluͤcks ſich in der letzten Thraͤne
der Sehnſucht bricht, ſchmuͤckt Iris
ſchon die ewige Stirn des Himmels
mit den zarten Farben ihres bunten
Bogens. Die lieblichen Traͤume
werden wahr, und ſchoͤn wie Ana⸗
dyomene heben ſich aus den Wogen
des Lethe die reinen Maſſen einer
neuen Welt und entfalten ihren Glie⸗
derbau in die Stelle der verſchwund⸗
7 —
*
Sehr u im
P
221
nen Finſterniß. In goldner Jugend
und Unſchuld wandelt die Zeit und
der Menſch im goͤttlichen Frieden
der Natur, und ewig kehrt Aurora
ſchoͤner wieder.
Nicht der Haß, wie die Weiſen
ſagen, ſondern die Liebe trennt die
Weſen und bildet die Welt, und nur
in ihrem Licht kann man dieſe fin⸗
den und ſchauen. Nur in der Ant⸗
ines jedes Ich ſeine
unendliche Einheit ganz fühlen, Dann
will der Verſtand den innern Keim
der Gottaͤhnlichkeit entfalten, ſtrebt
immer naͤher nach dem Ziele und iſt
voll Ernſt, die Seele zu bilden, wie
ein Kuͤnſtler das einzig geliebte
Werk. In den Muſterien der Bil⸗
dung ſchaut der Geiſt das Spiel
222
und die Geſetze der Willkuͤhr und
des Lebens. Das Werk des Pyg⸗
malion bewegt ſich, und den uͤber⸗
raſchten Kuͤnſtler ergreift ein freudi⸗
ger Schauer im Bewußtſeyn eigner
Unſterblichkeit, und wie der Adler
den Ganymedes reißt ihn die goͤtt⸗
liche Hoffnung mit maͤchtigem i
zum Olymp.
Zwey Briefe.
I.
Iſt es denn wahr und wirklich,
was ich ſo oft in der Stille wuͤnſchte
und nicht zu aͤußern wagte? — Ich
ſehe das Licht einer heiligen Freude
auf deinem Antlitz laͤcheln, und be⸗
ſcheiden giebſt du mir die ſchoͤne 11
heißung.
223
Du wirft Mutter ſeyn! —
Lebe wohl, Sehnſucht und du
leiſe Klage, die Welt iſt wieder
ſchoͤn, jetzt liebe ich die Erde, und
die Morgenroͤthe eines neuen Fruͤh—
lings hebt ihr Roſenſtrahlendes Haupt
uͤber mein unſterbliches Daſeyn.
Wenn ich Lorbeern haͤtte, wuͤrde ich
ſie um deine Stirn flechten, um dich
einzuweihen zu neuem Ernſt und zu
neuer Thaͤtigkeit; denn auch fuͤr dich
beginnt nun ein anderes Leben. Da⸗
fuͤr gieb du mir den Myrthenkranz.
Es ſteht mir wohl an, mich jugend—
lich zu ſchmuͤcken mit dem Sinnbilde
der Unſchuld, da ich im Paradieſe
der Natur wandle. Was vorher
war zwiſchen uns, iſt nur Liebe ge⸗
weſen und Leidenſchaft. Nun hat
224
uns die Natur inniger verbunden,
ganz und unaufloͤslich. Die Natur
allein iſt die wahre Prieſterin der
Freude; nur ſie verſteht es, ein
hochzeitliches Band zu kunuͤpfen.
Nicht durch eitle Worte ohne See⸗
gen, ſondern durch friſche Bluͤthen
und lebendige Früchte aus der Fülle
ihrer Kraft. Im endloſen Wechſel
neuer Geſtalten flicht die bildende
Zeit den Kranz der Ewigkeit, und
heilig iſt der Menſch, den das Gluͤck
beruͤhrt, daß er Fruͤchte traͤgt und
geſund iſt. Wir ſind nicht etwa
taube Bluͤthen unter den Weſen, die
Goͤtter wollen uns nicht ausſchließen
aus der großen Verkettung aller
wirkenden Dinge, und geben uns
deutliche Zeichen. So laß uns denn
unſre
. * * ler .
225
unſre Stelle in dieſer ſchoͤnen Welt
verdienen, laß uns auch die unfterb-
lichen Fruͤchte tragen, die der Geiſt
und die Willkuͤhr bildet, und laß
uns eintreten in den Reigen der
Menſchheit. Ich will mich anbauen
auf der Erde, ich will fuͤr die Zu⸗
kunft und fuͤr die Gegenwart ſaͤen
und erndten, ich will alle Kraͤfte
brauchen, ſo lange es Tag iſt, und
mich dann am Abend in den Armen
der Mutter erquicken, die mir ewig
— . 7
Braut ſeyn wird. Unſer Sohn,
der kleine ernſthafte Schalk wird
um uns ſpielen, und manchen Muth⸗
WA Nn . a
willen gegen dich mit mir aus⸗
ſinnen.
Lucinde J. P
226
Du haft Recht, das kleine Land⸗
gut muͤſſen wir durchaus kaufen.
Es iſt gut, daß du gleich die An⸗
ſtalten getroffen haſt, ohne auf meine
Entſcheidung zu warten. Richte al⸗
les ein, wie es dir gefaͤllt; nur nicht
gar zu ſchoͤn, wenn ich bitten darf,
aber auch nicht zu nuͤtzlich und vor
allen Dingen nicht zu weitlaͤuftig.
Wenn du nur alles ganz nach
deinem eignen Sinn machſt, und dir
nichts einreden laͤßt von Gewoͤhnli⸗
chem und Schicklichem, ſo wird es
ſchon recht ſeyn, wie es ſeyn muß
und wie ichs wuͤnſche, und ich werde
eine herrliche Freude haben uͤber das
ſchoͤne Eigenthum. Was ich ſonſt
brauchte, hatte ich gedankenlos und
ohne Gefuͤhl von Beſitz. Leichtſinnig
im e
227
lebte ich über die Erde weg, und
war nicht einheimiſch auf ihr. Nun
hat das Heiligthum der Ehe mir das
Buͤrgerrecht im Stande der Natur
gegeben. Ich ſchwebe nicht mehr
im leeren Raum einer allgemeinen
Begeiſterung, ich gefalle mir in der
freundlichen Beſchraͤnkung, ich ſehe
das Nuͤtzliche in einem neuen Lichte
und finde alles wahrhaft nuͤtzlich,
was irgend eine ewige Liebe mit ih⸗
rem Gegenſtande vermaͤhlt, kurz al⸗
les was zu einer aͤchten Ehe dient.
Die aͤußerlichen Dinge ſelbſt floͤßen
mir Hochachtung ein, wenn ſie in
ihrer Art tuͤchtig ſind, und du wirſt
am Ende noch frohlockende Lobreden
auf den Werth eines eignen Heer⸗
P 2 |
RE Ener
228
des und über die Würde der Haͤus⸗
lichkeit von mir hören.
Ich verſtehe jetzt deine Vorliebe
fuͤrs Landleben, ich liebe ſie an dir,
und ich fuͤhle wie du. Ich mag ſie
gar nicht mehr ſehn, dieſe unbeholf⸗
nen Klumpen von allem was ver⸗
derbt und krank iſt in der Menſch⸗
heit; und wenn ich ſie im allgemei⸗
nen denken will, erſcheinen ſie mir
wie wilde Thiere an der Kette, die
nicht einmal frey wuͤthen koͤnnen.
Auf dem Lande koͤnnen die Menſchen
doch noch beyſammen ſeyn, ohne ſich
haͤßlich zu draͤngen. Da koͤnnten,
wenn alles waͤre wie es ſollte, ſchoͤ⸗
ne Wohnungen und liebliche Huͤtten
wie friſche Gewaͤchſe und Blumen
den gruͤnen Boden ſchmuͤcken und
r * >
—
—
— —
229
einen würdigen Garten der Gottheit
bilden.
Freylich werden wir auch auf
dem Lande die Gemeinheit wieder
finden, die noch uͤberall herrſcht. Es 1
ſollte eigentlich nur zwey Staͤnde
unter den Menſchen geben, den bil⸗
denden und den gebildeten, den
maͤnnlichen und den weiblichen, und
ſtatt aller Fünftlichen Geſellſchaft eine
große Ehe dieſer beiden Staͤnde, und
allgemeine Bruͤderſchaft aller Einzel⸗
nen. Statt deſſen ſehen wir nur
eine Unzahl von Rohheit, und als
unbedeutende Ausnahme einige, die
durch Mißbildung verkehrt ſind!
Aber in der freyen Luft kann doch
das Einzelne, was ſchoͤn und gut
iſt, nicht ſo erdruͤckt werden durch
230
die ſchlechte Maſſe und durch den
Schein ihrer Allmacht.
Weißt du, welche Zeit unſrer
Liebe mir beſonders ſchoͤn glänzt? —
Zwar iſt mir alles ſchoͤn und rein
in der Erinnerung, und auch an die
erſten Tage denke ich mit wehmuͤthi⸗
gem Entzuͤcken. Aber das wertheſte
unter allem werthen ſind mir doch
die letzten Tage, die wir zuſammen
auf dem Gute lebten. — Ein neuer
Grund, um wieder auf dem Lande
zu wohnen!
Noch eins. Laß mir die Wein⸗
reben nicht zu ſehr beſchneiden. Ich
ſchreibe dies nur, weil du ſie gar
zu wild und uͤppig fandeſt, und
weil dir einfallen moͤchte, das
kleine Haus von allen Seiten durch:
„
231
aus ſauber vor dir zu ſehn. Auch
der gruͤne Raſenplatz muß bleiben
wie er iſt. Darauf ſoll das Kleine
ſein Weſen treiben, kriechen, ſpielen
und ſich waͤlzen.
Nicht wahr, der Schmerz, den
dir mein trauriger Brief erregt hat,
iſt völlig vergütet? Ich kann mich
in allen dieſen Herrlichkeiten und im
Taumel der Hoffnung nicht laͤnger
mit Sorge quaͤlen. Mehr Schmerz
als ich haſt du nicht dabey empfun—
den. Aber was liegt daran, wenn
du mich liebſt, wirklich liebſt, ſo recht
im Innerſten, ohne einen Hinter—
halt von Fremdem. Welcher Schmerz
waͤre der Rede werth, wenn wir
232
damit ein tieferes, heißeres Bewußt⸗
ſeyn unſrer Liebe gewinnen? Auch
du biſt ſo geſinnt. Alles, was ich
dir da ſage, wußteſt du lange. Über⸗
haupt iſt kein Entzuͤcken und keine
Liebe in mir, die nicht ſchon in ir⸗
gend einer Tiefe deines Weſens ver-
borgen laͤge, du Unendliche und
Gluͤckliche!
Mißverſtaͤndniſſe ſind auch gut,
damit das heiligſte einmal zur Spra⸗
che koͤmmt. Das Fremde, was dann
und wann zwiſchen uns zu ſeyn
ſcheint, iſt nicht in uns, in keinem
von uns. Es iſt nur zwiſchen uns
und auf der Oberflaͤche, und ich
hoffe bey dieſer Gelegenheit wirſt
du es ganz von dir und aus dir
wegtreiben.
233
Und, woher entſtehen ſolche kleine
Anftoßungen als aus der gegenſei⸗
tigen Unerſaͤttlichkeit t im Lieben und
Geliebtwerden? Ohne dieſe Unerſaͤtt⸗
lichkeit giebt's keine Liebe. Wir le⸗
ben und lieben bis zur Vernichtung.
Und wenn die Liebe es iſt, die uns
erſt zu wahren vollſtaͤndigen Men⸗
ſchen macht, das Leben des Lebens
iſt, fo darf auch fie wohl die Wi⸗
derſpruͤche nicht ſcheuen, ſo wenig
wie das Leben und die Menſchheit;
ſo wird auch ihr Frieden nur auf
den Streit der Kraͤfte folgen.
Ich fuͤhle mich gluͤcklich, daß ich
eine Frau liebe, die jo wie du lie
ben kann. So wie du iſt ein groͤ⸗
ßeres Wort als alle Superlative. —
Wie kannſt du nur meine Worte
*
234
loben, da ich, ohne es zu ES
welche traf, die dich fo v
mußten? Ich moͤchte ſagen, ich
ſchreibe zu gut, um dir ſagen zu
koͤnnen, wie mir im innerſten Ge⸗
muͤth iſt. Ach Liebe! glaube es nur,
daß keine Frage in dir ohne Ant⸗
wort in mir iſt. Deine Liebe kann
nicht ewiger ſeyn als die meinige.
— Koͤſtlich iſt aber deine ſchoͤne Ei⸗
ferſucht auf meine Fantaſie und ihre
Wuthbeſchreibungen. Das bezeichnet
recht die Graͤnzenloſigkeit deiner
Treue, laͤßt aber doch hoffen, daß
deine Eiferſucht nahe daran ſey, in
ihrem eignen uͤbermaaß ſich ſelbſt
zu zernichten.
Es bedarf nun dieſer Art von
Fantaſie — der geſchriebenen — nicht
erletzet a
ne — Pe
—
— 2
235
mehr. Ich werde bald bey dir ſeyn.
Ich bin heiliger, ruhiger wie ſonſt.
Ich kann dich im Geiſte nur an—
blicken und ſtets vor dir ſtehn. Du
fuͤhlſt alles, ohne daß ich's ſage, und
gluͤhſt freudig halb den geliebten
Mann halb das Kind im Herzen.
Weißt du noch, wie ich dir
ſchrieb, keine Erinnerung koͤnne dich
mir entweihen, du ſeyſt ewig rein
wie die heilige Jungfrau von un⸗
beflecktem Empfaͤngniß, und nichts
fehle dir zur Madonna wie das
Kind?
Nun haſt du es, nun iſt es da
und wirklich. Bald trage ich ihn auf
mr una
dem Arm, bald erzähle ich ihm
236
Maͤhrchen, bald unterrichte ich ihn
ſehr ernſthaft, bald gebe ich ihm
gute Lehren, wie der junge Menſch
ſich in der Welt zu betragen hat.
Und dann kehrt mein Geiſt wie⸗
der zuruͤck zur Mutter, ich gebe dir
einen unendlichen Kuß, ich ſehe wie
ſich dein Buſen ſehnend hebt, und
fuͤhle wie ſich's unter deinem Herzen
geheimnißvoll regt.
Wenn wir nur erſt wieder bey⸗
ſammen find, wollen wir unſrer Ju:
gend ganz Aua dend E
will die Gegenwart heilig Wa
Wohl haſt du Recht: Eine Stunde
ſpaͤter iſt unendlich viel ſpaͤter.
Es iſt hart, daß ich eben jetzt
— . — 1 = — 8
.. ——... .....
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El
"
237
nicht bey dir ſeyn kann! Ich begin:
ne aus Ungeduld viel Naͤrriſches.
Ich ſtreife faſt von Morgen bis
Abend umher in der herrlichen Ge—
gend; ich eile, als ob es Wunder
wie nothwendig waͤre, und gerathe
endlich an einen Ort, wohin ich am
wenigſten wollte. Ich gebehrde mich,
als ob ich heftige Reden hielte; ich
glaube allein zu ſeyn und bin plöß-
lich unter Menſchen; und muß dann
lächeln, wenn ich bemerke, wie ab-
weſend ich war. Auch ſchreiben
kann ich nicht lange und will nur
bald wieder hinaus, den ſchoͤnen
Abend an den Ufern des ruhigen
Stroms zu vertraͤumen.
Heute habe ich unter andern auch
vergeſſen, daß es Zeit war, den
238
Brief abzufenden. Dafür erhaͤltſt
du nun defto mehr Verwirrung und
Freude,
Die Menfchen find wirklich ſehr
gut mit mir. Sie verzeihn es mir
nicht nur daß ich ſo oft keinen Theil
nehme und dann mit einemmale ihr
Geſpraͤch auf eine ſonderbare Art
unterbreche: ſie ſcheinen ſich ſogar
in der Stille an meiner Freude herz⸗
lich zu freuen. Beſonders Juliane.
Ich ſage ihr nur weniges von dir,
aber fie hat viel Sinn dafür und
erraͤth das übrige. Es giebt doch
nichts liebenswuͤrdigeres als das
reine uneigennuͤtzige Wohlgefallen
an der Liebe! *
239
Ich glaube freylich, ich würde
jetzt meine Freunde hier lieben, wenn
ſie auch weniger vortreffliche Men—
ſchen waͤren. Ich fuͤhle eine große
Veraͤnderung in meinem Weſen:
eine allgemeine Weichheit und ſuͤße
Waͤrme in allen ‚Vermögen der
Seele und des Geiftes, wie die ſchoͤ⸗
ne Ermattung der Sinne, die auf
das hoͤchſte Leben folgt.
Und doch iſts nichts weniger als
Weichlichkeit. Vielmehr weiß ich,
daß ich alles, was meines Berufs
iſt, von nun an mit groͤßerer Liebe
und friſcher Kraft treiben werde.
Ich fuͤhlte nie mehr Zuverſicht und
Muth, als Mann unter Maͤnnern
zu wirken, ein heldenmaͤßiges Leben
zu beginnen und auszufuͤhren und
—— .
— — —
240
mit Freunden verbruͤdert fuͤr die Ewig⸗
keit zu ee
belle
es * den Göttern Pa zu wer⸗
den. Die deinige iſt es, gleich der
Natur als Prieſterin der Freude das
Geheimniß der Liebe leiſe zu offen⸗
baren und in der Mitte wuͤrdiger
Soͤhne und Toͤchter das ſchoͤne Le⸗
ben zu einem heiligen Feſt zu weihen.
Ich mache mir oft Sorge uͤber
deine Geſundheit. Du kleideſt dich
gar zu leicht und liebſt die Abend⸗
luft! Das ſind gefaͤhrliche Gewohn⸗
heiten, die du wie manche andre
ablegen mußt.
Denke, daß eine neue Ordnung
der
241
der Dinge fuͤr dich beginnt. Bisher
hieß ich deinen Leichtſinn ſchoͤn, weil
er an der Zeit war und zum Gan—
zen ſtimmte. Ich fand es weiblich,
wenn du mit dem Gluͤck ſcherzen
und alle Ruͤckſichten zerreißen und
ganze Maſſen deines Lebens oder
deiner umgebung vernichten konnteſt.
Nun iſt aber etwas da, worauf
du alles beziehen wirſt. Nun mußt
du dich allmaͤhlich zur Okonomie
bilden, verſteht ſich im allegoriſchen
Sinn.
In dieſem Brief geht alles recht
bunt durch einander, wie im menſch⸗
lichen Leben Gebet und Eſſen, Schel⸗
Lucinde J. Q
242
merei und Entzuͤcken. Nun gute
Nacht. — Ach warum kann ich
nicht wenigſtens im Traume bei dir
ſeyn, wirklich mit dir und in dir traͤu⸗
men! Denn wenn ich bloß von
dir traͤume, iſt's doch immer nur al⸗
lein. — Du willſt wiſſen, warum du
nicht von mir traͤumſt, da du doch
ſo viel an mich denkſt? Liebe!
ſchweigſt du nicht auch oft lange
uͤber mich?
Amaliens Brief hat mir große
Freude gemacht. Freilich ſeh' ich
aus dem ſchmeichelnden Ton, daß
ſie mich nicht von den Maͤnnern
ausnimmt, die der Schm
dürfen. Ich verlange das auch gar
—
-
—
1
nr
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IR
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SW.
er
10
hi
ar
170
243
nicht. Es waͤre unbillig zu fodern,
daß ſie meinen Werth auf unſre
Weiſe anerkennen ſoll. Genug, daß
eine mich ganz kennt! — Sie erkennt
ihn ja auf ihre Art ſo ſchoͤn! —
Sollte ſie wohl wiſſen, was Anbe—
tung iſt? Ich zweifle daran und
bedaure ſie, wenn ſie es nicht weiß.
Du nicht auch?
Heute fand ich in einem franzoͤ⸗
ſiſchen Buche von zwei Liebenden
den Ausdruck: »Sie waren einer
dem andern das Univerfum.« —
Wie fiel mir's auf, ruͤhrend und
zum Lächeln, daß, was da fo ges
dankenlos ſtand, bloß als eine Fi⸗
Q2
244 | | N A
gur der Übertreibung, in uns buch⸗
ſtaͤblich wahr geworden ſey!
Eigentlich iſt's zwar auch fuͤr ſo
eine franzoͤſiſche Paſſion buchſtaͤblich
wahr. Sie finden das Univerſum
einer in dem andern, weil ſie den
Sinn fuͤr alles andre verlieren.
F Nicht ſo wir. Alles, was wir
ſonſt liebten, lieben wir nun noch
| | wärmer. Der Sinn für die Welt
iſt uns erſt recht aufgegangen. Du
haſt durch mich die Unendlichkeit des
menſchlichen Geiſtes kennen gelernt,
und ich habe durch dich die Ehe und
das Leben begriffen, und die Herr⸗
lichkeit aller Dinge.
Alles iſt beſeelt fuͤr mich, ſpricht
zu mir und alles iſt heilig. Wenn
man ſich ſo liebt wie wir, kehrt
245
auch die Natur im Menfchen zu
ihrer urſpruͤnglichen Goͤttlichkeit zu⸗
ruͤck. Die Wolluſt wird in der ein⸗
ſamen Umarmung der Liebenden wie⸗
der, was ſie im großen Ganzen iſt
— das heiligſte Wunder der Natur;
und was fuͤr andre nur etwas iſt,
deſſen ſie ſich mit Recht ſchaͤmen
muͤſſen, wird fuͤr uns wieder, was
es an und fuͤr ſich iſt, das reine
Feuer der edelſten Lebenskraft.
Drei Pe wird unfer Kind N.
wiß haben: viel Muthwillen, ein
ernſthaftes Geſicht und etwas Anla=
ge zur Kunſt. Alles andre erwarte
ich mit ſtiller Ergebung. Sohn oder
Tochter, daruͤber kann ich keinen be⸗
nne
246
ſtimmten Wunſch haben. Aber über
die Erziehung habe ich ſchon unſaͤg⸗
lich viel gedacht, naͤmlich, wie wir
unſer Kind vor aller Erziehung ſorg⸗
faͤltig bewahren wollen; vielleicht
mehr als drei vernuͤnftige Vaͤter
denken und ſorgen, um ihre Nach⸗
kommenſchaft gleich von der Wiege
in lauter Sittlichkeit einzuſchnuͤren.
Ich habe einige Entwuͤrfe gemacht,
die dir gefallen werden. Auf dich
iſt ſehr dabei gerechnet. Nur mußt
du die Kunſt nicht vernachlaͤßigen!
— Wuͤrdeſt du fuͤr deine Tochter,
wenn es eine Tochter waͤre, lieber das
Portrait oder die Landſchaft waͤh⸗
len? —
247
Du Thoͤrin mit deinen aͤußerli⸗
chen Dingen! Du willſt wiſſen, was
mich umgiebt, wo, wann und wie
ich alles thue, lebe und bin? —
Sieh doch um dich, auf dem Stuhl
neben dir, in deinen Armen, an
deinem Herzen, da lebe und bin ich.
Trifft dich nicht der Strahl des Ver—
langens, und ſchleicht mit ſuͤßer
Waͤrme bis an dein Herz, bis an
den Mund, wo es in Kuͤſſen über:
ſtroͤmen möchte? —
Nun ruͤhmſt du dich noch gar,
daß du immer innerlich an mich
ſchriebſt und ich nur oft, du Syl⸗
benſtecherin! Erſtlich denke ich immer
ſo an dich, wie du es beſchreibſt,
daß ich neben dir gehe, dich ſehe,
hoͤre, ſpreche. Dann aber auch noch
248
anders, beſonders wenn ich des Nachts
aufwache.
Wie kannſt du nur an der Wuͤr⸗
digkeit und Goͤttlichkeit deiner Briefe
zweifeln! Der letzte blickt und leuchtet
aus hellen Augen; es iſt nicht Schrift
ſondern Geſang. —
Ich glaube wenn ich noch einige
Monate fern von dir waͤre, wuͤrde
dein Styl ſich voͤllig ausbilden. In⸗
deſſen finde ich es doch rathſamer,
daß wir den Styl und das Schrei⸗
ben nun laſſen und die ſchoͤnſten
und hoͤchſten Studien nicht laͤnger
ausſetzen, und ich bin ſo ziemlich
entſchloſſen, in acht Tagen In zu
reifen.
EEE Ne SENDE > deze ——— =
— ige — —— .
249
Zweyter Brief.
Es iſt ſonderbar, daß der Menſch
ſich nicht vor ſich ſelbſt fuͤrchtet. Die
Kinder haben Recht, daß fie fo neu⸗
gierig und doch ſo bange in die Ge—
ſellſchaft der unbekannten Geiſter hin—
einblicken. Jeder einzelne Atom der
ewigen Zeit kann eine Welt von
Freude faſſen, aber ſich auch zu ei⸗
nem unermeßlichen Abgrund von Lei—
den und Schrecken oͤffnen. Ich be⸗
greife nun das alte Maͤhrchen von
dem Manne, welchen ein Zauberer
in wenigen Augenblicken viele Jahre
durchleben ließ: denn ich habe die
furchtbare Allmacht der Fantaſie an
mir ſelbſt erfahren.
250
Seit dem letzten Briefe deiner
Schweſter — es find nun drei Ta⸗
ge — habe ich die Schmerzen eines
ganzen Menſchenlebens gefuͤhlt, von
dem Sonnenlicht der gluͤhenden Ju⸗
gend, bis zum blaſſen Mondſchein
des weißen Alters.
Jeder kleine Umſtand, den ſie
mir von deiner Krankheit ſchrieb,
beſtaͤtigte mich, mit dem was ich in
der vorigen von dem Arzt gehoͤrt
und ſelbſt beobachtet hatte, in dem
Gedanken, ſie ſey weit gefaͤhrlicher,
als ihr wuͤßtet, ja eigentlich nicht
mehr gefaͤhrlich, ſondern entſchieden.
In dieſen Gedanken verloren, alle
Kraͤfte durch die Unmoͤglichkeit, aus
der weiten Ferne zu dir zu eilen,
gelaͤhmt, war mein Zuſtand wirklich
. r
251
ſehr troſtlos. Erſt jetzt weiß ich's
recht, wie er war, da ich durch die
froͤhliche Bothſchaft deiner Geſund⸗
heit wiedergeboren bin. Denn ge⸗
ſund biſt du nun, fo gut als völlig
geſund. Das ſchließe ich aus allen
Berichten mit eben der Zuverficht,
mit der ich vor wenigen Tagen das
Todesurtheil uͤber uns ausſprach.
Ich dachte es mir gar nicht als
noch kuͤnftig oder als geſchehe es
jetzt. Alles war vergangen; ſchon
lange warſt du im Schooß der kuͤh⸗
len Erde verhuͤllt, Blumen keimten
allmaͤhlig auf dem geliebten Grabe,
und meine Thraͤnen floſſen ſchon
milder. Stumm und einſam ſtand
ich und ſah nichts als die geliebten
Züge und die ſuͤßen Blitze der ſpre⸗
252
chenden Augen. Unbeweglich blieb
dieſes Bild vor mir, nur trat bis⸗
weilen das bleiche Geſicht des letzten
Laͤchelns und des letzten Schlummers
leiſe an die Stelle, oder plotzlich ver⸗
wirrten ſich die verſchiedenen Erinne⸗
rungen. Mit unglaublicher Schnelle
veraͤnderten ſich die Umriſſe, kehrten
zur erſten Geſtalt zuruͤck, und ver⸗
wandelten ſich von neuem, bis der
uͤberſpannten Einbildung alles ver⸗
ſchwand. Nur deine heiligen Augen
blieben im leeren Raum und ſtan⸗
den unbeweglich da, wie die freund⸗
lichen Sterne ewig uͤber unſrer Ar⸗
muth ſchimmern. Unverruͤckt ſchaute
ich nach den ſchwarzen Lichtern, die
mit bekanntem Laͤcheln in die Nacht
meiner Trauer winkten. Bald brannte
r-
253
ein ſtechender Schmerz aus dunkeln
Sonnen mit unertraͤglichem Blenden,
bald ſchwebte und floß ein ſchoͤner
Glanz, als wollte er mich locken.
Da war es, als wehte eine friſche
Morgenluft mich an, ich warf mein
Haupt in die Hoͤhe, und es rief
laut in mir: »Warum ſollſt du dich
älen, in wenigen Augenblicken
kannſt du ja bei ihr feyn.« |
Schon eilte ich „ dir zu folgen,
aber ploͤtzlich hielt mich ein neuer
Gedanke an, und ich ſagte zu mei⸗
nem Geiſt: »Unwuͤrdiger, du kannſt
nicht einmal die kleinen Diſſonanzen
ittelmaͤßigen Lebens ertragen
und du haͤltſt dich ſchon für ein hoͤ⸗
heres reif und wuͤrdig? Gehe hin zu
leiden und zu thun was dein Beruf
254
iſt, und melde dich wieder, wenn
deine Aufträge vollendet find.« —
Iſt es nicht auch dir auffallend, wie
alles auf dieſer Erde nach der Mitte
ſtrebt, wie ſo ordentlich alles iſt,
wie ſo unbedeutend und kleinlich?
So ſchien es mir ſtets; daher ver⸗
muthe ich — und ich habe dir dieſe
Vermuthung, wenn ich nicht irre,
ſchon einmal mitgetheilt, — daß
unſer naͤchſtes Daſeyn groͤßer, im
Guten wie im Schlechten kraͤftiger,
wilder, kuͤhner, ungeheurer ſeyn
wird.
Die Pflicht zu leben hatte ge⸗
ſiegt, und ich war wieder in dem
Gewuͤhl des Lebens und der Men:
ſchen, ihrer und meiner ohnmaͤchti⸗
gen Handlungen und fehlervollen
255
Werke. Da befiel mich Entſetzen,
wie wenn ein Sterblicher ſich in der
Mitte unabſehlicher Eisgebirge ploͤtz—
lich allein faͤnde. Alles war mir
kalt und fremd und ſelbſt die Thraͤ⸗
ne gefror.
Wunderliche Welten erſchienen
und ſchwanden mir im aͤngſtlichen
Traum. Ich war krank und litt
iel, aber ich liebte meine Krankheit.
und hieß ſelbſt den Schmerz willkom⸗
men. J te alles Irdiſche und
freute mich, daß es beſtraft und zer⸗
ruͤttet wuͤrde; ich fuͤhlte mich ſo al⸗
lein und ſo ſonderbar, und wie ein
zarter Geiſt oft mitten im Schooß
des Gluͤcks uͤber ſeine eigne Freude
wehmuͤthig wird, und uns grade
auf dem Gipfel des Daſeyns das
256
Gefühl feiner Nichtigkeit überfällt, fo
fchaute ich mit geheimer Luft auf
meinen Schmerz. Er ward mir zum
Sinnbilde des allgemeinen Lebens,
ich glaubte die ewige Zwietracht zu
fuͤhlen und zu ſehen, durch die alles
wird und exiſtirt, und die ſchoͤnen
Geſtalten der ruhigen Bildung ſchie⸗
nen mir todt und klein gegen dieſe
ungeheure Welt von unendlicher Kraft
und von unendlichem Kampf und
Krieg bis in die verborgenſten Tie⸗
fen des Daſeyns.
Durch dieſes ſonderbare Gefuͤhl
ward die Krankheit zu einer eignen
Welt in ſich vollendet und gebildet.
f Ich fuͤhlte, ihr geheimnißreiches Le⸗
ben ſey voller und tiefer als die ge⸗
meine Geſundheit der eigentlich traͤu⸗
257
menden Nachtwandler um mich ber.
Und mit der Kraͤnklichkeit, die mir
gar nicht unangenehm war, blieb
mir auch dieſes Gefuͤhl und ſonderte
mich voͤllig ab von den Menſchen,
wie mich von der Erde der Gedan—
ke trennte, dein Weſen und meine
Liebe ſey zu heilig geweſen, um nicht
ihr und ihren groben Banden fluͤch—
tig zu enteilen. Es ſey alles gut
ſo und dein nothwendiger Tod nichts
als ein ſanftes Erwachen nach lei⸗
ſem Schlummer.
Auch ich glaubte zu wachen,
wenn ich dein Bild anſchaute, das
ſich immer mehr zu einer heitern
Reinheit und Allgemeinheit verklaͤr⸗
te. Ernſt und doch liebreizend, ganz
Du und doch nicht mehr Du, die
Lucinde I. R
258
göttliche Geſtalt umſchienen von
wunderbarem Glanz. Bald war es
wie der furchtbare Lichtſtrahl der
ſichtbaren Allmacht und bald ein
freundlicher Schimmer goldener Kind⸗
heit. Mit langen ſtillen Zuͤgen ſog
mein Geiſt aus der Quelle der kuͤh⸗
len reinen Gluth, ſich heimlich berau⸗
ſchend und in dieſer ſeeligen Trun⸗
kenheit fuͤhlte ich eine geiſtliche Wuͤr⸗
de eigner Art, weil mir in der That
jede weltliche Geſinnung ganz frem⸗
de war und mich niemals das Ge⸗
fuͤhl verließ, daß ich dem Tode ge⸗
weiht ſey.
Langſam floſſen die Jahre und
muͤhevoll trat eine That nach der
andern, ein Werk und dann wieder
eines an ſein Ziel, das ſo wenig
259
das meinige war als ich jene Tha—
ten und Werke für das, was fie hei⸗
ßen, nahm. Es waren mir nur bei:
lige Sinnbilder, alles Beziehungen
auf die eine Geliebte, die die Mitt:
lerin war z wiſchen meinem zer rſtück⸗
ten Ich und der untheilbaren ewi—
gen Menſchheit; das ganze Daſeyn
ein ſteter Gottesdienſt einſamer Liebe.
Endlich nahm ich wahr, das ſey
nun das lezte. Die Stirn war nicht
mehr glatt und die Locken wurden
bleich. Meine Laufbahn war geen⸗
digt aber nicht vollendet. Die beſte
Kraft des Lebens war dahin und
noch ſtand die Kunſt und die Tu⸗
gend ewig unerreichbar vor mir.
Ich waͤre verzweifelt, haͤtte ich nicht
beyde in Dir geſehn und vergoͤttert,
R 2
260
holdſelige Madonna! und Dich und
Deine milde Goͤttlichkeit in mir.
Da erſchienſt Du mir bedeutend
und winkteſt toͤdtlich. Schon ergriff
mich ein herzliches Verlangen nach
Dir und nach der Freyheit; ich ſehn⸗
te mich nach dem geliebten alten Va⸗
terlande und wollte eben den Staub
der Reiſe von mir ſchuͤtteln, als ich
wieder ins Leben gerufen ward durch
das Verheißen und die Gewißheit
Deiner Geneſung.
Nun ward ich meines wachen
Traums inne, erſchrack uͤber alle die
bedeutenden Beziehungen und Ahn⸗
lichkeiten und ſtand aͤngſtlich an dem
unſichtbaren Abgrund dieſer innern
Wahrheit. |
261
Weißt Du was mir am meiften
klar dadurch geworden iſt? — Zuerſt,
daß ich Dich vergdttre, und daß es
gut iſt, daß ich ſo thue. Wir bey⸗
de ſind eins und nur dadurch wird
der Menſch zu einem und ganz er
ſelbſt, wenn er ſich auch als Mittel⸗
punkt des Ganzen und Geiſt der
Welt anſchaut und dichtet. Doch
warum dichtet, da wir den Keim
zu allem in uns finden und doch
ewig nur ein Stuͤck von uns ſelbſt
Und dann weiß ichs nun, daß
der Tod ſich auch ſchoͤn und ſuͤß
fuͤhlen laͤßt. Ich begreife, wie das
freye Gebildete ſich in der Bluͤthe
aller Kräfte nach feiner Aufloͤſung
und Freyheit mit ſtiller Liebe ſehnen
262
und den Gedanken der Ruͤkkehr freu⸗
dig anſchauen kann wie eine Mor⸗
genſonne der Hoffnung.
Eine Reflexion.
Es iſt meinem Gemuͤth nicht ſel⸗
ten ſonderbar aufgefallen, wie ver⸗
fländige und wuͤrdige Menſchen mit
nie ermuͤdender Induſtrie und mit
ſo großem Ernſt das kleine Spiel
in ewigem Kreislauf immer von
neuem wiederholen koͤnnen, welches
doch offenbar weder Nutzen bringt
noch ſich einem Ziele naͤhert, obgleich
es das fruͤhſte aller Spiele ſeyn
mag.
Dann fragte mein Geiſt, was
wohl die Natur, die uͤberall ſo viel
denkt, die Liſt im Großen treibt und
263
ſtatt witzig zu reden, gleich witzig
handelt, bey jenen naiven Andeu⸗
tungen denken mag, welche gebilde-
te Redner nur durch ihre Namenlo—
ſigkeit benennen.
Und dieſe Namenloſigkeit ſelbſt
iſt von zweydeutiger Bedeutung. Je
verſchaͤmter und je moderner man
iſt, je mehr wird es Mode ſie aufs
Schamloſe zu deuten. Für die als
ten Goͤtter hingegen hat alles Le—
ben eine gewiſſe claſſiſche Wuͤrde
und ſo auch die unverſchaͤmte Hel⸗
denkunſt lebendig zu machen. Die
Menge ſolcher Werke und die Grö-
ße der Erfindungskraft in ihr be⸗
ſtimmt Rang und Adel im Reiche
der Mythologie.
Dieſe Zahl und dieſe Kraft ſind
264
gut, aber fie find nicht das Höchfte.
Wo ſchlummert alſo das erfehnte
Ideal verborgen? Oder findet das
ſtrebende Herz in der hoͤchſten aller
darſtellenden Kuͤnſte ewig nur andre
Manieren und nie einen vollendeten
Styl?
Das Denken hat die Eigenheit,
daß es naͤchſt ſich ſelbſt am liebſten
uͤber das denkt, woruͤber es ohne
Ende denken kann. Darum iſt das
Leben des gebildeten und ſinnigen
Menſchen ein ſtetes Bilden und Sin⸗
nen uͤber das ſchoͤne Raͤthſel ſeiner
Beſtimmung. Er beſtimmt ſie im⸗
mer neu, denn eben das iſt ſeine
ganze Beſtimmung, beſtimmt zu wer⸗
den und zu beſtimmen. Nur in ſei⸗
nem Suchen ſelbſt findet der Geiſt
265
des Menfchen das Geheimniß, wel:
ches er ſucht.
Was iſt denn aber das Beſtimmen⸗
de oder das Beſtimmte ſelbſt? In
der Maͤnnlichkeit iſt es das Namen⸗
loſe. Und was iſt das Namenloſe
in der Weiblichkeit? — das Unbe⸗
ſtimmte.
Das Unbeſtimmte iſt geheimniß⸗
reicher, aber das Beſtimmte hat
mehr Zauberkraft. Die reizende Ver⸗
wirrung des Unbeſtimmten iſt ro=
mantiſcher, aber die erhabene Bil:
dung des Beſtimmten iſt genialiſcher.
Die Schoͤnheit des Unbeſtimmten iſt
vergaͤnglich wie das Leben der Blu—
men und wie die ewige Jugend
ſterblicher Gefuͤhle; die Energie des
Beſtimmten iſt voruͤbergehend wie
266
das Achte Ungewitter und die aͤchte
Begeiſterung.
Wer kann meſſen und wer kann
vergleichen, was eines wie das an⸗
dre unendlichen Werth hat, wenn
beydes verbunden iſt in der wirkli⸗
chen Beſtimmung, die beſtimmt iſt,
alle Luͤcken zu ergaͤnzen und Mittle⸗
rin zu ſeyn zwiſchen dem maͤnnli⸗
chen und weiblichen Einzelnen und
der unendlichen Menſchheit?
Das Beſtimmte und das Unbe⸗
ſtimmte und die ganze Fuͤlle ihrer
beſtimmten und unbeſtimmten Bezie⸗
hungen; das iſt das Eine und Gan⸗
ze, das iſt das wunderlichſte und
doch das einfachſte, das einfachſte
und doch das hoͤchſte. Das Univer⸗
ſum ſelbſt iſt nur ein Spielwerk des
267
Beſtimmten und des Unbeſtimmten,
und das wirkliche Beſtimmen des
Beſtimmbaren iſt eine allegoriſche
Miniatur auf das Leben und We—
ben der ewig ſtroͤmenden Schoͤp⸗
fung.
Mit ewig unwandelbarer Symme⸗
trie ſtreben beyde auf entgegenge⸗
ſetzten Wegen ſich dem Unendlichen
zu naͤhern und ihm zu entfliehen. Mit
leiſen aber ſichern Fortſchritten er⸗
weitert das Unbeſtimmte ſeinen an—
gebohrnen Wunſch aus der ſchoͤnen
Mitte der Endlichkeit ins Graͤnzen⸗
loſe. Das vollendete Beſtimmte hin-
gegen wirft ſich durch einen kuͤhnen
Sprung aus dem ſeeligen Traum
des unendlichen Wollens in die
Schranken der endlichen That und
268
nimmt, fich felbft verfeinernd, immer
zu an großmuͤthiger Selbſtbeſchraͤn⸗
kung und ſchoͤner Genuͤgſamkeit.
Auch in dieſer Symmetrie offen⸗
bart ſich der unglaubliche Humor,
mit dem die conſequente Natur ih⸗
re allgemeinſte und einfachſte Anti⸗
theſe durchfuͤhrt. Selbſt in der zier⸗
lichſten und kuͤnſtlichſten Organiſa⸗
zion zeigen ſich dieſe komiſche Spi⸗
tzen des großen Ganzen mit ſchalk⸗
hafter Bedeutſamkeit wie ein ver⸗
kleinertes Portrait und geben aller In⸗
dividualitaͤt, die allein durch ſie und
den Ernſt ihrer Spiele entſtehet und
beſtehet, die letzte Rundung und
Vollendung.
Durch dieſe Individualitaͤt und
jene Allegorie bluͤht das bunte Ideal
269
wigiger Sinnlichkeit hervor aus dem
Streben nach dem Unbedingten.
Nun iſt alles klar! Daher die
Allgegenwart der namenloſen unbe⸗
kannten Gottheit. Die Natur ſelbſt
will den ewigen Kreislauf immer
neuer Verſuche; und ſie will auch,
daß jeder einzelne in ſich vollendet
bild der hoͤchſten untheilbaren Indi⸗
vidualitaͤt.
| Sich vertiefend in dieſe Indivi—
dualitaͤt nahm die Reflexion eine ſo
individuelle Richtung, daß ſie bald
anfing aufzuhoͤren und ſich ſelbſt zu
vergeſſen.
—
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EEE — 2 +˖ ———
270
»Was ſollen mir diefe Anſpielun⸗
gen, die mit unverſtaͤndlichem Ver⸗
ſtand nicht an der Graͤnze ſondern
bis in die Mitte der Sinnlichkeit
nicht ſpielen ſondern widerſinnig ſtrei⸗
ten? f
So wirſt Du und wuͤrde Julia⸗
ne zwar nicht ſagen aber doch ge⸗
wiß fragen.
Liebe Geliebte! darf der volle
Blumenſtrauß nur ſittſame Roſen,
ſtille Vergißmeinnicht und beſcheidne
Veilchen zeigen, und was ſonſt
maͤdchenhaft und kindlich bluͤht, oder
auch alles andre, was in bunter
Glorie ſonderbar ftrahlt?
Die maͤnnliche Ungeſchicklichkeit
iſt ein mannigfaltiges Weſen und
reich an Bluͤthen und Fruͤchten jeder
r Re Zn X
271
Art. Goͤnne ſelbſt der wunderlichen
Pflanze, die ich nicht nennen will,
ihre Stelle. Sie dient wenigſtens
zur Folie fuͤr die hellbrennende Gra—
nate und die lichten Orangen. Oder
ſoll es etwa ſtatt dieſer bunten Fuͤlle
nur eine vollkommne Blume geben,
welche alle Schoͤnheiten der uͤbrigen
vereint und ihr Dafeyn überflüffig
macht?
Ich entſchuldige nicht, was ich
lieber ſogleich noch einmal thun will,
mit vollem Zutrauen auf Deinen ob—
jektiven Sinn fuͤr die Kunſtwerke
der Ungeſchicklichkeit, welche den
Stoff zu dem, was ſie bilden will,
oft nicht ungern von der maͤnnlichen
Begeiſterung entlehnt.
Es iſt ein zaͤrtliches Furioſo und
272
ein kluges Adagio der Freundſchaft.
Du wirſt verſchiednes daraus lernen
koͤnnen: daß Maͤnner mit ungemei⸗
ner Delicateſſe zu haſſen verſtehn,
wie ihr zu lieben; daß ſie dann ei⸗
nen Zank, wenn er vollendet iſt, in
eine Diſtinetion umbilden, und daß
Du ſo viele Anmerkungen daruͤber
machen darfſt als Dir gefällig iſt.
Julius an Antonio.
1.5
Du haſt Dich ſehr veraͤndert
ſeit einiger Zeit! Sieh Dich vor,
Freund, daß der Sinn für das Gro⸗
ße Dir nicht abhanden kommt, ehe
Du es gewahr wirſt. Was ſoll das
geben? Du wirſt endlich ſo viel Zart⸗
heit und Feinheit anſetzen, daß Herz
und
. en 4 5
273
und Gefühl drauf geht. Wo bleibt
da die Männlichkeit und handelnde
Kraft? — Ich werde noch dahin
kommen, Dir zu thun wie Du mir
thuſt, ſeit wir nicht mehr mit ein—
ander ſondern neben einander leben.
Ich werde dir Graͤnzen ſetzen muͤſ—
ſen und ſagen, wenn er auch Sinn
fuͤr alles hat, was ſonſt ſchoͤn iſt,
ſo fehlt ihm doch der eine fuͤr die
Freundſchaft. Doch werde ich den
Freund und ſein Thun und Laſſen
nie moraliſch kritiſiren; wer das
kann, der verdient nicht das hohe
ſeltne Gluͤck einen zu haben.
Daß Du Dich zuerſt an Dir
ſelbſt vergreifſt, macht die Sache
nur ſchlimmer. Sage mir im Ernſt,
ſuchſt Du die Tugend in dieſen kuͤh—
Lucinde I. S
274
len Spitzfindigkeiten des Gefuͤhls,
in dieſen Kunſtuͤbungen des Ge⸗
muͤths, die den Menſchen aushoͤhlen
und am vollen Mark ſeines Lebens
zehren?
Schon lange war ich ergeben
und ſtill. Ich zweifelte gar nicht,
daß Du, da Du ſo vieles weißt,
auch wohl die Urſachen wiſſen wuͤr⸗
deſt, durch die unſre Freundſchaft un⸗
tergegangen iſt. Faſt ſcheint es, ich
habe mich geirrt, da du ſo erſtau⸗
nen konnteſt, daß ich mich ganz an
Eduard anſchließen will, da Du
gleichſam nicht begreifend zu fragen
ſchienſt, wodurch Du mich denn be⸗
leidigt haͤtteſt. Wenn es nur das
waͤre, nur etwas einzelnes, dann
waͤre es den Mislaut einer ſolchen
275
Frage nicht werth, dann würde fichs
von ſelbſt beantworten und ausglei⸗
chen. Iſt es aber nicht mehr, wenn
ich bey jeder Veranlaßung es immer
wieder als Entweihung fuͤhlen muß,
daß ich Dir alles von Eduard, wie
es vorfiel, mittheilte? Gethan haſt
Du freilich nichts gegen ihn, auch
nicht laut geſagt: aber ich weiß und
ſehe recht gut, wie Du denkſt. Und
wenn ich es nicht wuͤßte und ſaͤhe,
was waͤre denn die unſichtbare Ge—
meinſchaft unſrer Geiſter und die
ſchoͤne Magie dieſer Gemeinſchaft? —
Es kann Dir gewiß nicht einfallen,
Dich hier noch laͤnger zuruͤckziehen
und durch bloße Feinheit das Mis⸗
verſtaͤndniß in Nichts aufloͤſen zu
S 2
276
wollen: denn ſonſt hätte auch ich
wirklich nichts weiter zu ſagen.
Unſtreitig ſeyd ihr durch eine
ewige Kluft geſchieden. Die ruhige
klare Tiefe Deines Weſens, und der
heiße Kampf ſeines raſtloſen Lebens
liegen an den entgegengeſetzten En⸗
den des menſchlichen Daſeyns. Er
iſt ganz Handlung, Du biſt eine fuͤh⸗
lende und beſchauende Natur. Dar⸗
um ſollteſt Du eben Sinn fuͤr alles
haben und haſt ihn auch, wo Du
Dich nicht ſelbſt abſichtlich verſchlie⸗
ßeſt. Und das verdruͤßt mich ei⸗
gentlich. Moͤchteſt Du den Herrli⸗
chen lieber haſſen als verkennen! —
Aber wohin ſoll es fuͤhren, wenn
man ſich unnatuͤrlich gewoͤhnt, das
wenige Große und Schoͤne, was noch
277
etwa da ift, fo gemein zu nehmen,
als es der Scharffinn nur immer
nehmen kann, ohne die Anſpruͤche
auf den Sinn aufzugeben? — Was
man uͤberall ſehn will, muß man
endlich ſelbſt werden.
Iſt das die geruͤhmte Vielſeitig⸗
keit? — Freilich beobachteſt Du da⸗
bey den Grundſatz der Gleichheit,
und einem gehts nicht viel beſſer wie
dem andern; nur daß jeder auf ei:
ne eigne Art verkannt wird. Haſt
Du nicht auch mein Gefuͤhl gezwun⸗
gen über das, was ihm das heilig—
ſte iſt, ewig zu ſchweigen gegen Dich
wie gegen jeden andern? Und das
darum, weil Du Dein Urtheil nicht
ſchweigen laſſen konnteſt bis es Zeit
war, und weil Dein Verſtand uͤber⸗
278
all Graͤnzen erdichtet, ehe er feine
eigenen finden kann. Du haft mich
beynah in den Fall gebracht, Dir
auseinanderſetzen zu muͤſſen, wie
groß eigentlich mein Werth ſey, wie
viel richtiger und ſichrer Du gegan⸗
gen ſeyn wuͤrdeſt, wenn Du dann
und wann nicht geurtheilt ſondern
geglaubt, wenn Du hie und da in
mir ein unbekanntes Unendliches vor⸗
ausgeſetzt hätteft.
Freilich iſt meine eigne Nachlaͤ⸗
ßigkeit an allem Schuld. Vielleicht
wars auch Eigenſinn, daß ich die
ganze Gegenwart mit Dir theilen
wollte, und Dich uͤber Vergangen⸗
heit und Zukunft doch nicht belehr⸗
te. Ich weiß nicht, es widerſtand
meinem Gefuͤhl, auch hielt ichs fuͤr
279
überflüßig, denn ich traute Dir in
der That unendlich viel Verſtand zu.
O Antonio, wenn ich an ewigen
Wahrheiten zweifeln koͤnnte, jo haͤt⸗
teſt Du mich dahin gebracht, jene
ſtille ſchoͤne Freundſchaft, die auf der
bloßen Harmonie des Seyns und
Zuſammenſeyns beruht, für etwas fal⸗
ſches und verkehrtes zu halten!
Iſt es nun noch unbegreiflich,
wenn ich mich ganz auf die andre
Seite werfe? — Ich entſage dem
zarten Genuß und ſtuͤrze mich in
den wilden Kampf des Lebens. Ich
eile zu Edugrd. Alles iſt verabre⸗
det. Wir wollen nicht bloß zuſam⸗
men leben, ſondern im bruͤderlichen
Bunde vereint wirken und handeln.
Er iſt rauh und herbe, ſeine Tugend
280
iſt mehr Eräftig als empfindſam:
aber er hat ein maͤnnliches großes
Herz, und in jedem beſſern Zeitalter
waͤre er, das ſage ich kuͤhn, ein
Held geweſen.
II.
Es iſt wohl ſchoͤn, daß wir end⸗
lich einmal wieder mit einander ge⸗
ſprochen haben; ich bin es auch zu⸗
frieden, daß Du durchaus nicht ſchrei⸗
ben wollteſt, und auf die armen un⸗
ſchuldigen Buchſtaben ſchiltſt, weil
Du wirklich zum Sprechen mehr Ge⸗
nie haſt. Aber ich habe doch noch
eins und das andre auf dem Her⸗
zen, was ich nicht ſagen konnte und
was ich verſuchen will, Dir bee
anzudeuten.
281
Warum aber auf diefem We
ge? — O mein Freund, wenn ich
nur noch ein feineres gebildeteres
Element der Mittheilung wuͤßte, um
das, was ich moͤchte, in zarter Huͤlle
leiſe aus der Ferne zu ſagen! Das
Geſpraͤch iſt mir zu laut und zu
nah und auch zu einzeln. Dieſe
einzelnen Worte geben immer wieder
nur eine Seite, ein Stuͤck von dem
Zuſammenhange, von dem Ganzen,
das ich in ſeiner vollen Harmonie
andeuten moͤchte.
Und koͤnnen Maͤnner, die zuſam⸗
men leben wollen, zu zart gegen
einander in ihrem Umgange ſeyn? —
Es iſt nicht als ob ich befuͤrchtete,
etwas zu heftiges zu ſagen, und
daß ich darum gewiſſe Perſonen und
282
gewiſſe Gegenftände in unſerm Ge⸗
ſpraͤch vermied. Daruͤber, denke ich,
iſt ja wohl die Graͤnzſcheidung zwi⸗
ſchen uns auf immer vernichtet!
Was ich Dir noch ſagen wollte,
iſt etwas ganz Allgemeines; und
doch waͤhle ich lieber dieſen Um⸗
weg. Ich weiß nicht, ob es eine
falſche oder eine wahre Delieateſſe
iſt, aber es wuͤrde mir ſchwer fallen,
viel von der Freundſchaft mit Dir
zu reden von Angeſicht zu Angeſicht.
Und doch ſinds Gedanken uͤber
dieſe, die ich Dir ſagen muß. Die
Anwendung — und auf die kommt
es am meiſten an — wirſt Du leicht
ſelbſt machen koͤnnen.
Fuͤr mein Gefuͤhl giebts zwey
Arten von Freundſchaft. —
r
283
Die erſte iſt ganz äußerlich. Un:
erfättlich eilt fie von That zu That
und nimmt jeden wuͤrdigen Mann
auf in den großen Bund vereinter
Helden, ſchlingt den alten Knoten
durch jede Tugend feſter, und trach—
tet ſtets neue Bruͤder zu gewinnen;
je mehr ſie hat, je mehr begehrt ſie.
*
ea
|.
—
Erinnre Dich an die Vorwelt
und Du wirſt dieſe Freundſchaft, die
den redlichen Krieg gegen alles Boͤ⸗
ſe, wenn es auch in uns oder im
Geliebten waͤre, kaͤmpft, uͤberall fin⸗
den, wo die edle Kraft in großen
Maſſen wirkt und Welten bildet oder
beherrſcht.
Jetzt ſind andre Zeiten, aber das
Ideal dieſer Freundſchaft wird in
284
mir ſeyn, jo lange wie ich ſelbſt ſeyn
werde.
Die andre Freundſchaft iſt ganz
innerlich. Eine wunderbare Symme⸗
trie des Eigenthuͤmlichſten, als wenn
es vorher beſtimmt waͤre, daß man
ſich uͤberall ergaͤnzen ſollte. Alle
Gedanken und Gefühle werden ge⸗
ſellig durch die gegenſeitige Anre⸗
gung und Ausbildung des Heilig⸗
ſten. Und dieſe reingeiſtige Liebe,
dieſe ſchoͤne Myſtik des Umgangs
ſchwebt nicht bloß als fernes Ziel
vor einem vielleicht vergeblichen
Streben. Nein, ſie iſt nur vollendet
zu finden. Auch hat da keine Taͤu⸗
ſchung Statt, wie bey jener andern
heroiſchen. Ob die Tugend eines
Mannes Stich haͤlt, muß die That
285
lehren. Aber wer ſelbſt in feinem
Innern die Menſchheit und die Welt
fuͤhlt und ſieht, der wird nicht leicht
allgemeinen Sinn und allgemeinen
Geiſt da ſuchen koͤnnen, wo er nicht
iſt.
Zu dieſer Freundſchaft iſt nur
faͤhig, wer in ſich ganz ruhig wur⸗
de und in Demuth die Göttlichkeit
des andern zu ehren weiß.
Haben die Goͤtter einem Men—
ſchen eine ſolche Freundſchaft ge—
ſchenkt, ſo kann er weiter nichts,
als ſie mit Sorge vor allem was
aͤußerlich iſt bewahren und das hei—
lige Weſen ſchonen. Denn vergaͤng⸗
lich iſt die zarte Bluͤthe.
286
Sehnſucht und Ruhe.
Leicht bekleidet ſtanden Lueinde
und Julius am Fenſter im Pavillon,
erfriſchten ſich an der kuͤhlen Mor⸗
genluft und waren verloren im An⸗
ſchaun der aufſteigenden Sonne, die
von allen Voͤgeln mit munterem Ge⸗
ſang begruͤßt ward.
Julius, fragte Lueinde, warum
fuͤhle ich in ſo heitrer Ruhe die tiefe
Sehnſucht? — Nur in der Sehn⸗
ſucht finden wir die Ruhe, antworte⸗
te Julius. Ja die Ruhe iſt nur das,
wenn unſer Geiſt durch nichts ge⸗
ſtoͤrt wird, ſich zu ſehnen und zu
ſuchen, wo er nichts hoͤheres finden
kann als die eigne Sehnfucht.
287
Nur in der Ruhe der Nacht,
ſagte Lueinde, gluͤht und glaͤnzt die
Sehnſucht und die Liebe hell und
voll wie dieſe herrliche Sonne. —
Und am Tage, erwiederte Julius,
ſchimmert das Gluͤck der Liebe blaß,
ſo wie der Mond nur ſparſam leuch—
tet. — Oder es erſcheint und ſchwin—
det ploͤtzlich ins allgemeine Dunkel,
fuͤgte Lueinde an, wie jene Blitze,
die uns das Gemach erhellten, da
der Mond verhuͤllt war.
Nur in der Nacht ſingt Klagen,
ſprach Julius, die kleine Nachtigall
und tiefe Seufzer. Nur in der Nacht
eroͤffnet ſich die Blume ſchuͤchtern
und athmet frey den ſchoͤnſten Duft,
um Geiſt und Sinne in gleicher
Wonne zu berauſchen. Nur in der
288
Nacht, Lucinde, ſtroͤmt tiefe Liebes⸗
glut und kuͤhne Rede goͤttlich von
den Lippen, die im Geraͤuſch der Ta⸗
ge ihr ſuͤßes Heiligthum mit zartem
Stolz verſchließen.
Lucinde.
Nicht ich, mein Julius, bin die,
die Du ſo heilig mahlſt; obſchon
ich klagen moͤchte wie die Nachtigall
und, wie ich innig fuͤhle, nur der
Nacht geweiht bin. Du biſts, es iſt
die Wunderblume Deiner Fantaſie,
die Du in mir, die ewig Dein iſt,
dann erblickſt, wenn das Gewuͤhl
verhuͤllt iſt und nichts gemeines Dei⸗
nen hohen Geiſt zerſtreut.
Julius.
Laß die Beſcheidenheit und ſchmei⸗
chle nicht. Gedenke, Du biſt die
| Prie⸗
289
| Priefterin der Nacht. Im Strahl
der Sonne ſelbſt verkuͤndigts der
dunkle Glanz der vollen Locken, der
ernſten Augen lichtes Schwarz, der
hohe Wuchs, die Majeſtaͤt der Stirn
und aller edlen Glieder.
Lueinde.
Die Augen ſinken, indem Du
ruͤhmſt, weil jetzt der laute Morgen
| blendet, und luſtger Vögel buntes
| Lied die Seele ſtoͤrt und ſchreckt.
5 Sonſt möchte wohl das Ohr in ſtil⸗
| ler dunkler Abendkuͤhle des fügen
Freundes ſuͤße Rede gierig trinken.
Julius.
Es iſt nicht eitle Fantaſie. Un⸗
endlich iſt nach Dir und ewig uner⸗
reicht mein Sehnen.
Lucinde I. 18
290
Lucinde. |
01% iu 15 ſey, Du if. der
det.
Julius.
Die heilge e Nube kad ich Mi in
jenem Sehnen, Freundin.
Lueinde.
| Und ich in dieſer ſchoͤnen Ruhe
jene heilge Sehnſucht.
Julius.
Ach, daß das harte Licht den
Schleyer heben darf, der dieſe Flam⸗
men ſo verhuͤllte, daß der Sinne
Scherz die heiße Seele kuͤhlend lin—
dern mochte!
Lueinde.
So wird einſt ewig kalter ern⸗
ſter Tag des Lebens warme Nacht
291
zerreißen, wenn Jugend flieht und
wenn ich Dir entſage, wie Du der
großen Liebe groͤßer einſt entſagteſt.
Julius.
Daß ich doch Dir die unbekann⸗
te Freundin zeigen duͤrfte und ihr
das Wunder meines wunderbaren
Gluͤcks.
gucinde,
ewig mein auch ewig lieben. Das
iſt das große Wunder Deines wun⸗
derbaren Herzens.
Julius.
Nicht wunderbarer als das Dei—
ne. Ich ſehe Dich an meine Bruſt
gelehnt mit Deines Guido Locke ſpie⸗
len; uns beyde bruͤderlich vereint
T 2
>:
292
die wuͤrdge Stirn mit ewgen Freu⸗
dekraͤnzen zieren.
10 Lueinde.
Laß ruhn in Nacht, reiß nicht
ans Licht, was in des Herzens ſtiller
Tiefe heilig bluͤht.
Julius.
Wo mag des Lebens Woge
mit dem Wilden ſcherzen, den zart
Gefuͤhl und wildes Schickſal heftig
fortriß in die herbe Welt?
Lueinde.
Verklaͤrt und einzig glaͤnzt der
hohen Unbekannten reines Bild am
blauen Himmel Deiner reinen Seele.
Julius.
O ewge Sehnſucht! — Doch
endlich wird des Tages fruchtlos
Sehnen, eitles Blenden ſinken und
293
erlöfchen, und eine große Liebesnacht
ſich ewig ruhig fuͤhlen.
Lueinde.
So fuͤhlt ſich, wenn ich ſeyn
darf wie ich bin, das weibliche Ge⸗
ſehnt ſich nur nach Deinem Sehnen,
iſt ruhig wo Du Ruhe findeſt.
Taͤndeleyen der Fantaſie.
Durch die ſchweren lauten An—
ſtalten zum Leben wird das zarte
Goͤtterkind Leben ſelbſt verdraͤngt und
jaͤmmerlich erſtickt in der Umarmung
der nach Affenart liebenden Sorge.
Abſichten haben, nach Abſichten
handeln, und Abſichten mit Abſichten
zu neuer Abſicht kuͤnſtlich verweben:
dieſe Unart iſt fo tief in die naͤrri⸗
294
ſche Natur des gottähnlichen Men:
ſchen eingewurzelt, daß er ſichs nun
ordentlich vorſetzen und zur Abſicht
machen muß, wenn er ſich einmal
ohne alle Abſicht, auf dem innern
Strom ewig fließender Bilder und
Gefuͤhle frey bewegen will.
Es iſt der Gipfel des Verſtandes,
aus eigner Wahl zu ſchweigen, die
Seele der Fantaſie wiederzugeben
und die ſuͤßen Taͤndeleyen der jun⸗
gen Mutter mit ihrem Shogi
nicht zu ſtoͤren.
Aber ſo verſtaͤndig iſt der Ver⸗
ſtand nach dem goldnen Zeitalter ſei⸗
ner Unſchuld nur ſehr ſelten. Er
will die Seele allein beſitzen; auch
wenn ſie waͤhnt allein zu ſeyn mit
ihrer angebohrnen Liebe, lauſcht er
295
im Verborgnen und ſchiebt an die
Stelle der heiligen Kinderſpiele nur
Erinnerung an ehemalige Zwecke
oder Ausſichten auf kuͤnftige. Ja
er weiß den hohlen kalten Taͤuſchun⸗
gen einen Anſtrich von Farbe und
eine fluͤchtige Hitze zu geben und
will durch ſeine nachahmende Kunſt
der argloſen Fantaſie ihr eigenſtes
Weſen rauben.
Aber die jugendliche Seele laͤßt
ſich durch die Argliſt des Altklugen
nicht bethoͤren, und immer ſieht ſie
den Liebling ſpielen mit den ſchoͤnen
Bildern der ſchoͤnen Welt. Willig
laͤßt ſie ihre Stirn umflechten von
den Kraͤnzen, die das Kind aus den
Bluͤthen des Lebens flicht, und wil—
lig laßt fie ſich in wachen Schlum⸗
296
mer ſinken, Muſik der Liebe traͤu⸗
mend, und geheimnißvoll freundliche
Goͤtterſtimmen vernehmend, wie die
einzelnen Laute einer fernen Ro⸗
manze.
Alte wohlbekannte Gefuͤhle toͤ—
nen aus der Tiefe der Vergangen:
heit und Zukunft. Leiſe nur beruͤh⸗
ren ſie den lauſchenden Geiſt und
ſchnell verlieren ſie ſich wieder in
den Hintergrund verſtummter Muſik
und dunkler Liebe. Alles liebt und
lebt, klaget und freut ſich in ſchoͤner
Verwirrung. Hier oͤffnen ſich am
rauſchenden Feſt die Lippen aller
Froͤhlichen zu allgemeinem Geſange;
und hier verſtummt das einſame
Maͤdchen vor dem Freunde, dem ſie
ſich vertrauen moͤchte, und verſagt
297
den Kuß mit laͤchelndem Munde.
Gedankenvoll ſtreue ich Blumen auf
das Grab des zu fruͤh entſchlafnen
Sohnes, die ich bald voll Freude und
voll Hoffnung der Braut des ge—
liebten Bruders darreiche, waͤhrend
die hohe Prieſterin mir winkt und
mir die Hand reicht zu ernſtem Bun⸗
de, bey dem ewig reinen Feuer ewi⸗
ge Reinheit und ewige Begeiſterung
zu geloben. Ich enteile dem Altar
und der Prieſterin, um das Schwerdt
zu ergreifen und mit der Schaar
der Helden in den Kampf zu ſtuͤrzen,
den ich bald vergeſſe, wo ich in tief⸗
ſter Einſamkeit nur den Himmel und
mich beſchaue.
Welche Seele ſolche Traͤume
ſchlummert, die traͤumt ſie ewig fort,
——
298
auch wenn ſie erwacht iſt. Sie fuͤhlt
ſich umſchlungen von den Bluͤthen
der Liebe, ſie huͤtet ſich wohl die lo⸗
ſen Kraͤnze zu zerreißen, ſie giebt ſich
gern gefangen und weiht ſich ſelbſt
der Fantaſie und laͤßt ſich gern be⸗
herrſchen von dem Kinde, das alle
Mutterſorgen durch ſeine ſuͤßen Taͤn⸗
deleyen lohnt. 6
Dann zieht ſich ein friſcher Hauch
von Jugendbluͤthe uͤber das ganze
Daſeyn und ein Heiligenſchein von
kindlicher Wonne. Der Mann ver⸗
goͤttert die Geliebte, die Mutter das
Kind und alle den ewigen Men⸗
/ ſchen.
Nun verſteht die Seele die Kla⸗
ge der Nachtigall und das Laͤcheln
des Neugebohrenen, und was auf
„% nn — —
299
Blumen wie an Sternen ſich in ge:
heimer Bilderſchrift bedeutſam offen:
bart, verſteht ſie; den heiligen Sinn
des Lebens wie die ſchoͤne Sprache
der Natur. Alle Dinge reden zu
ihr und überall ſieht fie den liebli⸗
chen Geiſt durch die zarte Huͤlle.
Auf dieſem feſtlich geſchmuͤckten
Boden wandelt ſie den leichten Tanz
des Lebens, ſchuldlos und nur be—
ſorgt dem Rhythmus der Geſellig⸗
keit und Freundſchaft zu folgen und
keine Harmonie der Liebe zu ſtoͤren.
Dazwiſchen ewger Geſang, von
dem ſie nur dann und wann ein—
zelne Worte vernimmt, welche noch
hoͤhere Wunder verrathen laſſen.
Immer ſchoͤner umgiebt ſie die⸗
ſer Zauberkreis. Sie kann ihn nie
300
verlaffen und was fie bildet oder
ſpricht, lautet wie eine wunderbare
Romanze von den ſchoͤnen Geheim⸗
niſſen der kindlichen Goͤtterwelt, be⸗
gleitet von einer bezaubernden Mu⸗
ſik der Gefuͤhle und geſchmuͤckt mit
den bedeutendſten Bluͤthen des liebli⸗
chen Lebens.
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PT Schlegel, Friedrich von
2503 Lucinde
S6L7
1907
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